Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
Gesicht! Und diese Schläfen! Sind die von Geburt an so? Hören Sie, ich würde Sie gern malen.«
»Was soll daran interessant sein?«, fauchte Landrinow. »Schon graue Schläfen, aber immer noch Student. Wie alt sind Sie, mein Herr?«
Fandorin breitete verlegen die Arme aus.
»Schon siebenundzwanzig. Ein ewiger Student. Ich habe nämlich nicht genug Geld. Ein Jahr studiere ich, ein Jahr arbeite ich irgendwo. Wenn ich was angespart habe, studiere ich weiter …«
»Na, wenn Sie ein ganzes Jahr hier arbeiten, werden wir uns noch oft sehen«, sagte das Mädchen. »Also denken Sie über das Porträt nach. In Öl, das kann ich gut. Ich bin Mawra. Ohne Vatersnamen. Einfach Mawra.«
Sie sieht wirklich einer Maurin 2 ähnlich, dachte Fandorin. Einer Albino-Maurin: schwellender Mund, Stupsnase, helle Ringellocken . Nicht umsonst sagt man in Japan: Im Namen liegt das Schicksal. Wie ein Mensch heißt, so wird er.
Das Mädchen streckte ihm die Rechte hin – nicht für einen Kuss, sondern für einen Handschlag. Sie drückte die Hand des Kollegienassessors mit zarten, aber erstaunlich kräftigen Fingern, rückte dann den Traggurt zurecht und ging die Treppe hinunter.
»Sie gucken ihr hinterher? Hübsches Mädchen, oder?«, fragte der Remington-Schreiber betont unbeteiligt.
Fandorin antwortete nicht. Das Gute an unhöflichen Menschen ist, dass man mit ihnen auch nicht viel Umstände machen muss.
»Als ich die Treppe hochkam, hörte ich sie weinen. Ist etwas vorgefallen?«
Landrinow verzog das Gesicht.
»Sie hat ein paar Tränen zerquetscht. Bei uns hier ist so eine Geschichte passiert … Davon haben Sie bestimmt schon gehört.«
»Sie meinen den Tod von Leonard von Mack?«
»Ja, jemand hat die alte Spinne kaltgemacht. Hat Gift in die Teekanne getan.«
In seiner Stimme war nicht ein Hauch von Mitleid. Sonderbarer Mann: Den einen nannte er »Pfui«, den andern Kanzleiratte, den dritten Spinne.
»Wer denn?«, fragte Fandorin flüsternd.
»Das ist für unsereinen zu hoch. Große Raubtiere haben große Feinde. Bei denen gibt’s was zu holen. Da reckte sich eine gewaltige Eiche, nun ist sie umgestürzt. Im Fallen hat sie noch ein paar Ameisen zerquetscht, aber wen kümmern die schon?«
Der Kollegienassessor stellte sich unwissend.
Landrinow lachte böse.
»Na klar, das hat man Ihnen nicht erzählt. Außer von Mack sind noch zwei vergiftet worden, aber das Kroppzeug interessiert keinen. Ein Putzmann und ein gewisser Stern, der Bräutigam vonMawra Lukinischna. Unter uns, ein mieser Mickerling. Wissen Sie, womit er die Braut geködert hat? Mit seinem Namen und Paris.«
Diesmal verstand Fandorin wirklich nicht.
»Wie bitte?«
»Mawra Lukinischna kann ihren Namen nicht ausstehen – Serdjuk 3 .«
»Warum nicht?«
»Das hab ich sie auch gefragt. Ein Name wie jeder andere, aber sie leidet darunter. Sie sagt: Was kann eine Frau in Russland werden, wenn sie Mawra Lukinischna Serdjuk heißt? Krämerin? Kaufmannsfrau? Im besten Fall Hebamme. Aber sie träumt von einem Leben als Künstlerin. Das hat Stern, dieser Hund, ausgenutzt. Er hat kürzlich was geerbt, von seiner Tante. Nicht viel, so fünftausend, aber er ist sofort hin zu Mawra und hat um ihre Hand angehalten. Wir fahren nach Paris, hat er gesagt, dort leben jetzt die berühmtesten Maler. Und Sie bekommen einen schönen Namen: Madame Stern. Da hat das Dummchen angebissen. Aber Gott hat anders entschieden. Sie kriegt weder den Namen noch Paris.«
Aus Landrinows Stimme klang Genugtuung. Ein richtiger Misanthrop, dachte Fandorin. Sein Gesicht schimmert ja schon gelblich, weil ihm ständig die Galle überläuft.
»Und warum war Mawra Lukinischna im Büro? Wohl wegen einer Zuwendung, weil ihr Bräutigam gestorben ist?«
Landrinow knurrte.
»Da kannst du bei den von Macks lange drauf warten. Sie war bei ihrem Papa, der ist hier Oberschriftführer. Sie bringt ihm das Frühstück und das Mittagessen. Die Familie hat gleich nebenan eine Dienstwohnung.«
Er musterte Fandorin immer noch und konnte sich nicht beruhigen: »Trotzdem, was hat sie bloß an Ihnen gefunden? Keine tolle Statur, kein rosiger Teint, obendrein graue Schläfen. Höchstens die Größe. Aber ich bin kein bisschen kleiner. Und von mir wollte sie noch nie ein Porträt malen! Na schön, kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg. Hier durch den kleinen Korridor und dann gleich nach links.«
Am Vorabend, als der Kollegienassessor die Familie von Mack aufsuchte, war das Büro leer gewesen – die Dienstzeit
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