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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Stuhl umstieß.
    »Sind Sie verrückt geworden?« schrie er.
    »Sie haben sich selbst verraten«, sagte Fandorin. »Weshalb mussten Sie Sergej von Mack verleumden? Herr Wanjuchin, der seine Version gern bestätigt sehen wollte, nahm Ihre Zeugenaussage für bare Münze. Aber ich habe mich heute morgen mit den Telegraphisten unterhalten, die am 6. September Dienst hatten. Sergej von Mack kann sich nicht an sie erinnern, aber die ›kleinen Leute‹ merken sich alles. Wie Sie wissen, kann man von der Telegraphenstelle die Treppe nach oben und nach unten überblicken. Sergej von Mack stieg im Mantel die Treppe hoch, sah seinen Vater am Apparat, sprach kurz mit ihm und ging wieder. Ins Büro ist er nicht hochgekommen. Deshalb stellte ich mir die Frage: Warum hat Landrinow gelogen?«
    »Du lügst selber, du Lackaffe!«, schrie Landrinow wütend. »Durch Betrug hast du dich hier eingeschlichen, dich als Student ausgegeben, hast dich in Positur gesetzt und malen lassen, dabei bist du überhaupt kein Student! Da sehen Sie, Mawra Lukinischna, wem Sie vertraut haben!«
    Aber nach den glühenden Augen zu urteilen, mit denen die Künstlerin Fandorin ansah, nahm sie ihm das nicht übel.
    Leicht den Kopf wendend, um das Fräulein zu sehen, aber auch Landrinow nicht aus dem Auge zu lassen, fragte Fandorin rhetorisch: »Vielleicht hat Landrinow aus Hass gelogen? Wohl kaum. Dieser Mann hasst die ganze Welt, aber eine besondere Abneigung gegen den neuen Direktor zu entwickeln, hatte er keine Gelegenheit. Sergej von Mack sitzt erst seit wenigen Tagen im Chefbüro. Ich hatte, ehrlich gesagt, einen Verdacht, der mit einer gewissen Reise nach Paris zusammenhängt, aber der hat sich zerstreut.« Der Kollegienassessor sah zu Mawra. »Landrinow wusste nichts davon, sonst wäre die gestrige Kugel nicht auf mich abgeschossen worden, sondern auf einen anderen.«
    »Wieso Paris? Was für eine Kugel? Sie reden in Rätseln.« Wanjuchin runzelte die Stirn. »Ihre Version ist auf Sand gebaut. Sie hängen der britischen ›psychologischen Schule‹ an, Herr Kollege, weil Sie jung sind. Bei der Ermittlung kommt es aber auf Fakten an. Wenn nicht ›wem nützt es‹, was dann?«
    »Das zweithäufigste Motiv für ein V-Verbrechen ist – cherchez la femme. Wir haben es hier mit einem Verbrechen aus Leidenschaft zu tun. Landrinow ist bis zum Wahnsinn in … eine junge Frau verliebt, das sieht sogar ein Blinder.«
    Alle blickten Mawra an. Sie errötete und senkte die Augen.
    Sergej von Mack, der bis jetzt kein Wort gesagt hatte, rief aus: »Wie konnten Sie so etwas von meinem Vater denken! Sie kannten ihn nicht, er war ein hochmoralischer Mann! All seine Gedanken galten dem Unternehmen!«
    »Das ist wirklich nicht schön«, tadelte der Petersburger Fandorin. »Der Verstorbene war ein geachteter alter Herr und gab sich nicht mit jungen Mädchen ab, das wissen alle.«
    »Es ging nicht um den geachteten alten Herrn«, sagte Fandorin, verdrossen über die Begriffsstutzigkeit der Gesprächspartner. »Landrinow wollte nicht den Direktor aus dem Weg räumen, sondern seinen glücklichen Rivalen, den Bräutigam von Mawra Lukinischna.Der Tod des Barons von Mack diente ausschließlich zur Vertuschung.«
    »Baron von Mack? Zur Vertuschung?!«, rief Wanjuchin entgeistert. »Wegen eines kleinen Sekretärs?«
    Auch Sergej von Mack schüttelte den Kopf.
    »Was für eine wilde Phantasie!«
    Fandorin breitete die Arme aus. »Der ewige Irrtum der Mächtigen dieser Welt. Sie denken, sie allein wären bedeutsam, die ›kleinen Leute‹ aber wären nur Statisten, und alles bei ihnen wäre klein: ihre Leidenschaften, ihre Pläne, ihre Verbrechen. Der Herr Untersuchungsführer hat neulich gesagt: Wo ein Baum geschlagen wird, fallen Späne. Hier ist es umgekehrt: Wegen eines Spans musste ein Baum fallen. Ich selbst halte keinen Menschen für einen Span, aber das Kalkül des Täters g-ging auf. Er wusste, dass der Baron seinem Sekretär Tee anbieten würde. Beide würden sterben, aber Sterns Tod würde im Schatten bleiben. Keiner würde auf die Idee kommen, dass nicht der Titan der russischen Industrie die Zielscheibe war, sondern ein kleiner Angestellter. Den unglücklichen Putzmann aber erwischte es ganz zufällig. Das hat Sie jedoch nicht weiter bekümmert?«, wandte er sich an Landrinow und machte ein paar Schritte auf die Ecke zu, wo die Schreibmaschine stand.
    Landrinow zog eine verächtliche Grimasse, aber seine Hand, mit der er sich auf die Stuhllehne stützte, zitterte. Er

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