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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
Autoren: Boris Akunin
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Kette hin und her, leckte sogar an einem der Steinchen (zum Glück war niemand im Zimmer) und roch auch noch daran. Die Zunge ermittelte keinerlei Geschmack, doch ein Geruch war da – kaum wahrnehmbar, aber unzweifelhaft. Fandorin erkannte ihn. Ein Geruch von unverfälschtem, wahrem Altertum, wie bei den byzantinischen Mosaiken oder den Ruinen des Kolosseums. Ein solches Aroma verströmt die Zeit, wenn sie sich aufgestaut hat: Die verdichtete Zeit riecht nach Ruhe, Staub und etwas Wermut.
    Die Finger klapperten von selbst mit den Kugeln, und plötzlich kam ihm ein nicht ganz verständlicher Gedanke: Fünfundzwanzig – das ist dreimal langes Leben plus eine Eins. Das heißt, mehr als dreimal Langlebigkeit? Was mochte das bedeuten?
    Plötzlich ein leises Knacken – der Faden war gerissen, und die Perlen fielen als grüner Regen hinunter, aber nicht bis auf den Boden, denn Fandorin reagierte blitzschnell. Er ließ sich sofort auf die Knie nieder, legte die hohlen Handflächen zusammen und fing alle Kugeln auf, bis auf eine – die fünfundzwanzigste. Sie schlug mit einem seltsamen schmatzenden Laut auf dem Parkett auf und rollte zur Seite. Seltsam war nicht nur das Schmatzen, das bei einem Zusammenstoß von Stein und Holz nicht entstehen kann. Genau so erstaunlich war, dass der Laut nicht von unten kam, sondern von oben.
    Der kniende Beamte hob den Kopf und sah, dass im Sessel an der Stelle, wo eben noch sein Kopf gewesen war, ein dicker kurzer Pfeil vibrierte, der fast bis zur Befiederung in die Polsterung eingedrungen war.
    Dieser rätselhafte Vorfall verblüffte Fandorin derart, dass er den Kopf schüttelte, erst dann die Kugeln in den Sessel legte und dengefiederten Gast aus dem Polster zog. Solche Pfeile hatte er schon gesehen – sie werden mit kleinen, aber wirkungsvollen Armbrüsten abgeschossen, wie sie seit Urzeiten professionelle Mörder in Japan, Korea und China benutzen.
    Ohne einen Moment zu überlegen, sprang Fandorin aus dem Fenster, landete federnd auf dem weichen Beet und drückte die Finger gegen die Augäpfel, damit sich die Augen schneller an die Dunkelheit gewöhnten.
    Aber noch bevor sich die Pupillen weiteten, erfasste Fandorins Gehör ein Geräusch – da lief ein Mensch in eng anliegender Kleidung gebückt zu der Einfriedung, die das Anwesen des Barons Ewert-Kolokolzew, bei dem Fandorin den Seitenflügel gemietet hatte, von dem schon erwähnten Apfelgarten trennte. Der Beinahe-Mörder rannte leicht und behende durch die Dunkelheit, seine Füßen berührten den Boden fast lautlos.
    Einen Revolver hatte der Hofrat nicht bei sich, und wenn er ihn gehabt hätte, würde er nicht geschossen haben. Erstens wollte er sich mit dem unbekannten Feind auseinandersetzen, und zweitens beging dieser einen unverzeihlichen topographischen Fehler – offensichtlich aus mangelnder Ortskenntnis. An der Stelle, wohin er jetzt so schnell lief, erwartete ihn kein gewöhnlicher Zaun, sondern eine gut drei Meter hohe Mauer. In dem Wissen, dass der neue Wilhelm Tell ihm nicht entkommen konnte, folgte ihm Fandorin ruhig und ohne Eile.
    Aber da erlebte er noch eine Überraschung. Ohne den Lauf zu verlangsamen, stieß sich der Attentäter von der Erde ab und sprang so hoch, dass er mit den Händen den Rand der Mauer fassen konnte. Mühelos zog er sich hinauf, hockte sich hin und verschwand auf die andere Seite. Bevor er in den Apfelgarten sprang, verharrte er einen Augenblick auf der Mauer, und Fandorin konnte die schwarze Silhouette deutlich sehen: enganliegende Hose, kurze Jacke und ein konusförmiges Mützchen. Ein Chinese!
    Fandorin nahm Anlauf und versuchte, die Mauer auf die gleiche Weise zu überwinden, aber wegen des Hausmantels und der Hausschuhe gelang ihm das nicht auf Anhieb. Als er schließlich rittlings auf dem Hindernis saß, hatte es keinen Sinn mehr, die Verfolgung fortzusetzen: Der Apfelgarten empfing ihn mit ruhiger Reglosigkeit – kein Zweig bewegte sich, das Gras raschelte nicht, und den Fluchtweg des Verbrechers festzustellen, war ganz unmöglich.
    Enttäuscht und ratlos kehrte Fandorin in seine Wohnung zurück. Für alle Fälle zog er die Stores zu, obwohl es im Zimmer sogleich stickig wurde. Er ging auf und ab, klatschte mehrmals in die Hände, massierte sich die Schläfen, aber ihm fiel nichts Vernünftiges ein. Aus Erfahrung wusste er, dass eine mechanische Arbeit die stockenden Gedanken am besten wieder in Gang bringt. Und er fand auch gleich eine Beschäftigung.
    Er ging in Masas Zimmer und
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