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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
Autoren: Boris Akunin
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Elfenbeinpfeife miteinem langen, drachenverzierten Mundstück. Der Hofrat sah sich verstohlen um (links schlummerte ein blasser bärtiger Herr in Beamtenuniform mit abgetrennten Knöpfen, rechts thronte ein pausbackiger Chinese mit selig zugekniffenen Äuglein) und legte die Kette an den Rand der Matratze, wischte dann mit dem Taschentuch sorgfältig das Mundstück ab und nahm vorsichtig einen Zug – aus rein wissenschaftlichem Interesse. Nichts Besonderes geschah – nicht nach dem ersten Zug, nicht nach dem zweiten, auch nicht nach dem dritten.
    Fandorin war beruhigt und tat, als schlummerte er, betrachtete jedoch unter gesenkten Lidern – die Augen hatten sich schon an das Schummerlicht gewöhnt – unauffällig die Gesichter der Raucher. Merkwürdige Gesichter, gleichsam ihres Alters beraubt, alle mit leicht herabgesunkenem Kinn und dunklen Gruben an Stelle der Augenhöhlen. Fandorins Aufmerksamkeit erregte ein alter Chinese mit langem grauem Bärtchen, der ihm genau gegenübersaß. Der Hofrat wunderte sich, wie gestochen scharf er alles sah – jede Runzel im gütigen Gesicht des Alten. Plötzlich öffneten sich die Augen des Chinesen ein wenig, und es zeigte sich, dass sie keineswegs schläfrig und glasig waren, sondern sehr lebendig, klar und wohl sogar fröhlich. Er zwinkerte Fandorin zu und fragte mit freundlicher, unglaublich angenehmer Stimme, ohne jeden Akzent:
    »Na, schwer?«
    Fandorin begriff sofort, dass der Chinese ihn nicht nach einer belanglosen Misslichkeit wie dem ungewohnten Sitzen auf der klumpigen Matratze fragte, sondern danach, ob ihm, Fandorin, das Leben schwerfalle.
    »Nein«, antwortete der Beamte.
    Er dachte nach und sagte: »Ja.«
    Es duftete nach blühenden Apfelbäumen, und plötzlich stellte sich heraus, dass sie beide – Fandorin und der sympathische Alte – keineswegs in einem feuchten Keller saßen, sondern auf demGipfel eines kleinen Berges. Unten erstreckte sich eine grüne Ebene, glitzerten die Quadrate überschwemmter Reisfelder, die Hänge waren mit Bäumchen bestanden, die über und über blühten, in der Ferne schimmerte ein weißsteinernes Kloster mit bizarren Türmchen und einer fünfstöckigen Pagode, und der vorabendliche Himmel hatte eine lila-grüne Färbung, wie man sie in den mittleren Breiten Russlands niemals sieht.
    Der Ortswechsel setzte Fandorin nicht in Erstaunen – im Gegenteil, er hielt ihn für angemessen, ja, für selbstverständlich. Er wusste, daß der Alte Te Huanji hieß und der Berg – Taischan.
    Sie schwiegen.
    »Fürchtest du dich vor dem Tod?«, fragte der Alte.
    Und wieder antwortete Fandorin zuerst mit »Nein« und dann mit »Ja«.
    »Fürchte dich nicht vor ihm.« Te Huanji lächelte. »Er hat nichts Schreckliches. Wenn du willst, gibt es ihn überhaupt nicht. Soll ich dich in dieses Geheimnis einweihen?«
    »Ja, weiser Mann!«, rief Fandorin. »Weihe mich ein!«
    »Hör mir zu, aber nicht mit dem Verstand, sondern mit der Seele, denn der Verstand ist wie ein Blatt, das sich im Frühling entfaltet und im Herbst abfällt, die Seele dagegen ist ein mächtiger Baum, der tausend Jahre lebt.«
    »Ich will nicht tausend Jahre leben«, sagte Fandorin. »Aber ich will das Geheimnis wissen.«
    »Gleich wirst du es erfahren.« Der Zauberer lächelte noch freundlicher. »Es ist einfach. Denn was ist der Tod?«
    Der Beamte beugte sich vor, um sich kein Wort entgegen zu lassen, aber der Weise senkte die Lider und streckte die Hand aus, sehr weit, über zwei Meter. Die sich wundersam verlängernde Hand packte Fandorin an der Schulter und schüttelte sie kräftig.
    »Herr, Herr, ssnell, er lennt weg!«, hörte Fandorin eine Stimme, die mit fürchterlichem japanischem Akzent Russisch sprach.
    »Warte, Te Huanji«, bat der Hofrat, »geh nicht fort. Das ist Masa, ich schicke ihn gleich weg, damit er nicht stört.«
    Aber zu spät. Der Zauberer, der mit Apfelbäumen bewachsene Berg und die grüne Ebene waren verschwunden.
    Fandorin jedoch saß noch immer auf der Matratze, in dem verräucherten Keller, und Masa beugte sich über seinen opiumbenebelten Herrn und rüttelte ihn an der Schulter.
    »Kette!«, sagte Masa – derselbe rundgesichtige Asiat, der eben noch neben dem Beamten gesessen hatte. »Hat Kette getsohlen!«
    Tatsächlich, die Jadekette, die Fandorin neben sich gelegt hatte, war weg.
    »Wer hat sie gestohlen? Te Huanji?«, fragte Fandorin träge. »Meinetwegen. Sie gehört ihm.«
    »Wieso Te Huanji? Hat getsohlen alte Mann, der dot auf die
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