Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
einen Fehler. Aber ich wollte etwas anderes sagen! Meine Herren, hier war kein Giftmörder am Werk! Erinnern Sie sich, dass unser verstorbener Freund Aprikosen bestellte?«
    Bukwin zeigte auf den Teller.
    »Ja, wie gewöhnlich«, sagte der Bankier. »Herr Kulebjakin bestellte vor warmen Gerichten immer getrocknete Aprikosen und verzehrte sie auf seine besondere Art: Er löste die Kerne heraus und aß sie, das Fleisch ließ er liegen.«
    »Ganz recht«, bekräftigte der Kellner. »Wir hatten uns alle daran gewöhnt. Mindestens drei Pfund auf einen Sitz hat er verspeist, wenn man das volle Gewicht rechnet. Die Kerne wogen natürlich weniger.«
    »E-Erlauben Sie, was hat das mit unserem Fall zu tun?« Fandorin blickte den berühmten Kardiologen verständnislos an.
    Der lachte.
    »Sehr viel. Wussten Sie, mein Herr, dass jeder Aprikosenkern Blausäure enthält? In sehr geringer Menge, so dass man sich fast unmöglich vergiften kann, dafür müsste man etliche hundert Kerne essen. Aber manchmal, sehr selten, gibt es anomale Kerne, in denen die Konzentration der Blausäure um ein Vielfaches erhöht ist. Ich weiß das, weil im Türkischen Krieg einer meiner Sanitäter sich an Kernen überfressen hat und eine schwere Vergiftung davontrug, wir konnten ihn nur mit Mühe retten. Mit einem schwachen Herzen hätte er nicht überlebt.«
    »Richtig!« Der Geheimrat klatschte in die Hände. »Erinnern Siesich, meine Herren? Er aß einen Kern, verzog das Gesicht und sagte: ›Pfui, ist der bitter!‹«
     
    Zurück nach Moskau fuhr der Staatsrat mit leeren Händen. War er zuvor von Afanassi Kulebjakins Schuld überzeugt gewesen, so hatte er jetzt zumindest starke Zweifel. Kein Indiz, kein Anhaltspunkt. Mit dem Tod seines Onkels hatte er nichts zu tun. Dann hatte er vielleicht den Fürsten Borowski doch unabsichtlich getötet? Der Jäger hatte gesagt: Zuerst hat er sich nach allen Seiten umgedreht und die Leiche untersucht, und erst dann hat er geschrien. Was ist daraus zu schließen? Vielleicht war er durch seinen Rausch abgestumpft oder, im Gegenteil, tief erschüttert. Ein Mensch benimmt sich in solch einem Zustand zuweilen sehr merkwürdig, zumindest scheint es von außen so …
    Ein Zwei-Personen-Abteil.
    Dem missmutigen Staatsrat gegenüber saß ein korpulenter Mann mit Spitzbart. Zu Beginn der Fahrt hatte er sich vorgestellt, aber Fandorin hatte seine Worte aus Zerstreutheit und verdrießlicher Nachdenklichkeit an sich vorbeirauschen lassen. Der Mann war wohl Adjunkt. Oder Privatdozent? Unwichtig.
    Der Adjunkt oder Dozent war auch verdrossen, er hüllte sich in Schweigen und seufzte ab und zu. Doch schließlich erlag er der uralten russischen Versuchung, sich einem zufälligen Reisegefährten anzuvertrauen.
    Er begann mit den Worten: »Wie ich sehe, sind Sie auch in melancholischer Stimmung?«
     
    5
     
    Vier Wochen zuvor hatte in diesem Abteil ein Gespräch stattgefunden, das verblüffend ähnlich begann.
    Zwei einander unbekannte Männer, beide mit trübsinnigerMiene, fuhren von Moskau nach Petersburg. Anfangs schwiegen sie. Dann blickte der Ältere von beiden seinen Reisegefährten an und sagte: »Mein Herr, ich sehe Ihnen an, dass auch Ihnen etwas an der Seele nagt. Wie wäre es mit einem aufmunternden Tropfen?«
    Er öffnete seine Reisetasche, in der jeder Gegenstand ein behagliches Fach hatte: Toilettenutensilien, Gläser, Bürsten, Flakons, auch eine Reiseflasche Cognac. Es war zu sehen, dass es sich um einen peniblen, ordentlichen Mann handelte, der oft auf Reisen war.
    Der Jüngere leistete ihm gern Gesellschaft. Das erste Glas tranken sie, ohne etwas nachzuessen (oder, wie sich der Ältere ausdrückte, »a cappella«), nach dem zweiten nahmen sie ein Stück Zitrone, nach dem dritten Schokolade, nach dem vierten eine Zigarre, und dann war die Flasche leer.
    Nachdem sie nicht so sehr von der Menge des Getrunkenen wie von der Geschwindigkeit des Trinkens beschwipst waren, fragte der Ältere plötzlich: »Sagen Sie, hatten Sie schon mal das Verlangen, einen Menschen umzubringen? Ein so rasendes Verlangen, dass Ihnen die Hände zitterten und die Zähne knirschten?«
    Der Jüngere zuckte zusammen und sah seinen Mittrinker erschrocken an.
    »Wie seltsam, dass Sie davon … ich wollte gerade …«
    Er sprach nicht zu Ende.
    Der Ältere achtete nicht darauf, er wollte sich selber aussprechen.
    »Ich erzähl’s Ihnen …« Er beugte sich über das Tischchen, sein gepflegtes Gesicht schien in Wellen zu zerfließen. »Wenigstens

Weitere Kostenlose Bücher