Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
zu dem Schluss, dass er nach Petersburg fahren und sich ernsthaft mit Herrn Kulebjakin beschäftigen musste.
3
Nach zwei Tagen Petersburg wusste der Staatsrat über das Objekt alles, was zu erfahren war.
Eigentlich war die Biographie des jungen Mannes völlig belanglos. Das Gymnasium hatte er nicht abgeschlossen – er war wegen schlechter Leistungen und ungehörigen Betragens relegiert worden. Ebenso erfolglos hatte er sich auf sechs verschiedenen Arbeitsstellen versucht, die sein Onkel ihm vermittelt hatte, in der Hoffnung, aus dem Taugenichts werde doch noch ein nützliches Glied der Gesellschaft. Der junge Mann hielt sich nirgends lange, er flog überall in hohem Bogen. Schließlich hatte der Onkel genug von seinem Neffen und kümmerte sich nicht mehr um ihn. In letzter Zeit sprach er sogar häufig davon, dass er vorhabe, das Testament zu ändern und sein riesiges Vermögen wohltätigen Einrichtungen zu vermachen. Er sprach davon, zeigte aber keine Eile, seine Absicht zu verwirklichen, denn er war nicht alt und gedachte noch ein Weilchen zu leben.
Doch das Schicksal entschied anders. Vor reichlich zwei Wochen speiste er mit Bekannten im Jachtklub zu Abend. Plötzlich fühlte er sich unwohl, verlor das Bewusstsein und starb auf der Fahrt ins Krankenhaus. Todesursache: Herzstillstand.
So, so, sagte sich Fandorin. Er begann tiefer zu graben.
Zu seiner Verblüffung stellte er fest, dass der Leichnam nicht obduziert worden war. Und das bei einem plötzlichen Tod? Merkwürdig.
Doch aus dem Protokoll, das der Reviervorsteher umgehend angefertigt hatte, ersah Fandorin, dass unter den Tischgenossen des Millionärs der bekannte Doktor Bukwin gewesen war, Professor der Medizin, eine Leuchte der Kardiologie. Er hatte versucht, dem Sterbenden Hilfe zu leisten, und als dieser den Geist aufgegeben hatte, Herzmuskelruptur konstatiert. Verständlich, dass der Reviervorsteher den Leichnam ohne Obduktion zur Bestattung freigegeben hatte: In keinem Leichenschauhaus der Polizei hätte eine Expertise von größerer Autorität erstellt werden können.
Und nun erlaubte sich ein aus Moskau abkommandierter Beamter, den Befund anzuzweifeln. Mit Zustimmung des Staatsanwalts ließ er das frische Grab öffnen und die Leiche exhumieren.
Und was kam dabei heraus? Die pathologische Untersuchung wies im Gewebe des Toten einen extrem hohen Gehalt an Blausäure nach.
Vergiftung!
Oberpolizeimeister Schubert erhielt folgendes Telegramm:
»Kulebjakin weiterhin unter Hausarrest halten. Beabsichtige Ermittlungsexperiment. Fandorin.«
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Also, eine Woche, bevor Afanassi Kulebjakin bei der Jagd den Fürsten Borowski erschoss, war ein anderer Mord geschehen, von dem der Erbe direkt profitierte.
Blausäure in hoher Dosis ist ein ziemlich rasch wirkendes Gift. Da sich der Onkel erst am Ende des ausgedehnten geselligenAbendessens unwohl fühlte, war auszuschließen, dass ihm der Neffe das Gift schon zu Hause verabreicht hatte. Außerdem wurde der nichtsnutzige junge Mann seit langem nicht mehr über die Schwelle gelassen. Im Restaurant war er auch nicht dabei gewesen. Mehr noch, er hatte ein wasserdichtes Alibi: Drei Tage vor dem Tod des Onkels war er in Schuldhaft genommen worden – auf Veranlassung seiner Gläubiger. Und es war ungewiss, wie lange er hinter Gittern gesessen hätte, denn sein Onkel hatte nicht daran gedacht, ihn freizukaufen.
Das Rätsel konnte nur mit Hilfe eines Experiments gelöst werden.
Fandorin beschloss, das Bild des unglückseligen Abendessens detailgetreu zu rekonstruieren und dabei den Professor, die übrigen Bekannten des Toten und die Bediensteten unter die Lupe zu nehmen. Letztere hatte er besonders im Verdacht. Vielleicht hatte sich ja einer von ihnen bestechen lassen? Für den Koch und erst recht für den Kellner wäre es ein Leichtes gewesen, den Wein oder das Essen zu vergiften.
Sollte Kulebjakin, wenn auch durch Dritte, seinen Onkel getötet haben, so ließe sich der Mord bei der Jagd erklären, das Motiv war zwar recht bizarr, aber nicht undenkbar. In der Kriminalistik kamen solche Fälle sehr selten vor, aber Fandorin hatte in seinem Ermittlerleben noch ausgefallenere Motive erlebt.
Ein Mensch, der einen raffiniert ausgedachten Mord erfolgreich in die Tat umgesetzt hat, kann ein Gefühl der eigenen Allmacht entwickeln, der Überlegenheit über die jämmerliche, stumpfe, gesetzestreue Herde. Er fühlt sich als heimlicher Herr der Welt, als unerkannter Lenker der Geschicke, und
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