Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
völliger Einsamkeit. Er saß in einem Abteil des Kurierzugs und blickte aus dem Fenster, vor dem nichts war, kein bisschen Landschaft, nur ein kahles weißes Feld und darüber ein ebenso weißer Himmel. Russland im Januar. Auf diese grundierte Leinwand konnte jeder zeichnen, was er wollte, der Schneesturm würde alles verwehen und rein gar nichts zurücklassen.
Fandorin saß allein im Abteil, weil nach der absurden russischen Vorschrift, die er in den Jahren seines Lebens im Ausland vergessen hatte, Dienstboten nicht erster Klasse fahren durften. Hätte er am Fahrkartenschalter gesagt, Masa sei nicht sein Kammerdiener, sondern ein japanischer Viconte, so hätten sie es zu zweit unterhaltsamer gehabt. Schuld war seine verdammte Ehrlichkeit im Kleinen, Nebeneffekt seines langen Amerikaaufenthalts. Ums Haar hätte er sogar seinen richtigen Namen und Dienstgrad angegeben, dabei reiste er ja als »Kaufmann Erast Kusnezow«.
Armer Masa. Der musste sich auf dem Holzsitz durchrüttelnlassen, und das mit Reisenden, die sein asiatisches Gesicht anstarrten und ihn nach dem Leben in China ausfragten, da sie von Japan noch nie gehört hatten.
Fandorin holte aus der Tasche ein Seidentuch mit der Abbildung zweier Sumoringer, die einander mit ihren gewaltigen runden Bäuchen stießen. Dieses Prachtstück hatte Masa heute früh mit einer Verbeugung seinem Herrn überreicht. Wo es herstammte und wie lange er es bis heute aufbewahrt hatte, mochte Gott wissen.
Das zweite Geschenk, nämlich die Reise in die Heimat, hatte Fandorin sich selbst gemacht. Er hob sein Glas, ließ es gegen die Fensterscheibe klirren, um mit der russischen Winterlandschaft anzustoßen, und sagte: »Gratuliere zum Geburtstag, Herr Kusnezow.«
Den Namen Kusnezow hatte er ausgesucht, weil es der bei Großrussen am weitesten verbreitete und somit der unauffälligste war. Auch sein Aussehen hatte er nach dem statistischen Durchschnitt gewählt – erstens wegen der erwähnten Unauffälligkeit und zweitens, weil er diese Reise im Dienst der statistischen Wissenschaft machte. Zur Statistik später, jetzt erst mal zur Unauffälligkeit.
Der letzte Besuch in seinem Vaterland im Mai vorigen Jahres hatte das Verhältnis zwischen dem Staatsrat im Ruhestand und der herrschenden Macht endgültig zerrüttet, und zwar so sehr, dass den Polizeiagenten im ganzen Reich eine Personenbeschreibung des in Ungnade Gefallenen zuging – sie sollten ihn natürlich nicht festnehmen, dafür gab es keine juristische Handhabe, aber ihn insgeheim observieren. Die Beschattung fiel Fandorin, dem das Privatleben ungeheuer wichtig war, sehr auf die Nerven, überdies war allgemein bekannt, zu welchen Gemeinheiten die russische Macht fähig ist, wenn sie sich herabgesetzt wähnt. Gab es eine Observierung, so ließ sich auch eine juristische Handhabe finden.
Darum hatte der unliebsame Besucher den Stil seiner Kleidungradikal verändert. Statt des Gehrocks trug er einen altmodischen Mantel und statt des Huts eine Schirmmütze, und seine Füße steckten in festen Schaftstiefeln. Zudem hatte er sich einen Bart wachsen lassen, der nicht nur sein einprägsames Gesicht verfremdete, sondern auch von seinem wichtigsten Merkmal ablenkte, nämlich den grauen Schläfen. Denn in seinem Bart schimmerten auch schon allerhand graue Haare. In dem nicht mehr jungen Bartträger mit der Schirmmütze den Dandy Fandorin zu erkennen, war nicht leicht.
Nach den Moskauer Abenteuern im letzten Jahr wäre es gewiss vernünftiger gewesen, die heimatlichen Gefilde für ein, zwei Jahre zu meiden, aber solche Kompromisse verschmähte Fandorin. Er fand, dass er auf Russland nicht weniger Anrecht habe als ein Großfürst oder der Imperator höchstpersönlich. Wenn eine Notwendigkeit oder wie jetzt wissenschaftliches Interesse seine Anwesenheit in der Heimat erforderlich machte, hatten die Personen der kaiserlichen Familie dies hinzunehmen. Mochten sie gekrönt sein und Fandorin nicht, der Gekrönte hatte auch größere Pflichten. Wer in Palästen wohnt, im Golde schwimmt und bedient wird, der nehme gefälligst seine Verantwortung wahr. Doch leider ist es höchst unwahrscheinlich, dass Russland jemals von Machthabern regiert wird, die einsehen, dass Herrschen ein Leidensweg ist und die goldene Krone ein Dornenkranz.
Solche Überlegungen kamen Fandorin recht häufig in den Sinn, und sie verdarben ihm jedes Mal die Laune. Diejenigen seiner Landsleute, die über die Monarchie ähnlich dachten, erstrebten zumeist die
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