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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Revolution und nannten sich Sozialisten. Fandorin jedoch glaubte nicht an den Nutzen von Revolutionen, und gegen Theorien, die mit Begriffen wie »Volk«, »Nation«, »Klasse«, »Massen« operierten, hegte er eine unüberwindliche Abneigung. Was für eine Idee, Menschen nach diesem oder jenem äußeren Merkmal zu sortieren! Den Menschen, der die Krone der Schöpfung, dasAbbild Gottes und ein ganzer Kosmos war, auf seine soziale Funktion zu reduzieren, auf eine Emse im Ameisenhaufen!
    Da fuhr nun also durch die weite russische Tiefebene ein gewisser Erast Petrowitsch Kusnezow, nicht Fisch noch Fleisch, blickte hinaus ins Weiße vor dem Fenster und wurde immer mürrischer, er haderte mit sich selbst, benahm sich mithin wie ein Russe und nicht wie ein Amerikaner.
    Der Amerikaner trachtet stets, insbesondere an seinem Geburtstag, alles optimistisch zu sehen.
    Vielleicht lenkte Lesen ab?
    Fandorin klappte das mitgenommene Buch auf (»Die Kreutzersonate«), legte es jedoch alsbald wieder weg. Die Richtung, die das Genie des Grafen Tolstoi in den letzten Jahren eingeschlagen hatte, verdross ihn mitunter sehr.
    Auf einem kleinen Bord standen ein paar Bände, von der Eisenbahn für die Herren Reisenden erster Klasse zum Zeitvertreib bereitgestellt. Es waren durchweg gottgefällige Bücher, da auf dieser Strecke gewöhnlich Pilger zu den heiligen Stätten des Nordens zu reisen pflegten. Die Aufmerksamkeit des missgelaunten Fahrgastes erregte ein Büchlein »Namen und Namenstage«, welches die Gedenktage der Heiligen mit kurzem Lebenslauf aufführte und die christlichen Namen unterhaltsam kommentierte, bestens geeigneter Lesestoff am Geburtstag.
    Seltsam, doch Fandorin hatte sich noch nie gefragt, zu Ehren welches Heiligen er den so wenig verbreiteten Namen bekommen hatte. Er las – und staunte.
    Der Heilige Erast hatte im ersten Jahrhundert gelebt und zu den siebzig Aposteln gehört, die Jesus über die ursprünglichen Zwölf hinaus zum Gottesdienst berief. Von Haus aus nicht Jude, sondern Grieche (für die Frühzeit des Christentums recht exotisch), entstammte er einem vornehmen Geschlecht und bekleidete einen hohen Posten in der Stadt Korinth. Doch gab er, der Stimme seinesHerzens gehorchend, alles auf, folgte dem heiligen Paulus durch die Städte und wurde später Bischof in Palästina oder Mazedonien. Über das Leben dieses halblegendären Mannes ist fast nichts überliefert. Eine Variante (die von Palästina) besagt, er sei steinalt geworden und friedlich entschlafen. Nach der anderen (von Mazedonien) habe er während der Repressionen unter Nero die Märtyrerkrone genommen.
    Die Palästina-Variante gefiel Fandorin zunächst besser. Wenngleich … Er legte das Buch weg, dachte ein wenig nach und zuckte die Achseln: Beide Varianten waren gar nicht schlecht.
    Über seinen Vornamen las er: »Erastos« bedeutet im Griechischen »der geliebt wird«; es gab nach der Jahreszeit der Geburt den Winter- und den Sommer-Erast. Der Winter-Erast zeichnet sich durch einen unruhigen und unabhängigen Charakter aus, verlässt sich nur auf sich selbst und geht steinige Pfade. Der Sommer-Erast hingegen ist ein frohgemuter Mensch, der sich nichts zu Herzen nimmt und ein gedankenloses und angenehmes Leben führt.
    Fandorin, neidisch auf seinen sommerlichen Namensvetter, grübelte noch eine Weile über seinen Vornamen nach.
    Immerhin war unwahrscheinlich, dass sein Vater ihn zu Ehren des Erastos von Korinth so genannt hatte. Er war nicht fromm gewesen und hatte für die Traditionen der Kirche kaum Achtung empfunden. Eher hatte er den Namen aus Kummer gewählt, da er dem Säugling nicht vergeben konnte, die Todesursache der Mutter zu sein, die am Kindbettfieber gestorben war. Die Ärmste hatte Lisa geheißen, und der untröstliche Witwer hatte den Sohn Erast getauft, das heißt Verderber – das war wie ein Fluch. Zwanzig Jahre später sollte der grausame Schatten der Karamsin-Erzählung 1 noch einmal auf Fandorin junior fallen. Seine Frau hieß ebenfalls Lisa, und auch sie starb durch seine, Erasts, Schuld …
    Der Zug hatte die Tiefebene hinter sich gelassen und durchfuhr einen Fichtenwald. Vor dem Fenster dämmerte es bereits, doch sich auf amerikanischen Optimismus umzustellen, wollte dem Geburtstagskind nicht gelingen.
    Da mobilisierte er seine gesamte Willenskraft, um die Schwermut zu vertreiben. Er verbot sich, über die verworrene Zukunft seines Vaterlands und die früheren Verluste zu grübeln, und zwang seine Gedanken, sich den

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