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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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strahlenden Höhen des FORTSCHRITTS zuzuwenden. Nach seiner tiefsten Überzeugung gab es nur eines, was das arme Russland retten konnte: die rasche Vorwärtsbewegung auf dem Wege der gesellschaftlichen Entwicklung und der Wissenschaft. Auf anderes war nicht zu hoffen.
    Er entwarf einen ausführlichen Plan für die bevorstehende Expedition, und seine Stimmung wurde sogleich besser.
     
    ZSK – der Champion
     
    Sein Reiseziel hing unmittelbar mit der schon erwähnten Statistik zusammen, der Königin der Geisteswissenschaften. An diesem spannenden Wissenszweig hatte Fandorin erst vor kurzem Interesse genommen.
    Als er sich geschäftehalber in New York aufhielt, hatte er aus schierer Neugier bei einem Kongress der Internationalen Statistischen Gesellschaft vorbeigeschaut, der unter dem Motto »Statistics – The Champion of Progress« tagte. Ausgerechnet an diesem Tag trat dort ein Redner aus Sankt Petersburg auf, der Geheimrat Troinizki. Der angesehene Gelehrte referierte über die Vorbereitungen zur ersten gesamtrussischen Volkszählung in der Geschichte. Sein Vortrag war außerordentlich interessant, dieGrößenordnung und die Schwierigkeit der Aufgabe beflügelten die Fantasie. Fandorin hörte bis zu Ende zu, stellte in der Diskussion Fragen und erachtete es dann auch noch für nützlich, dem Landsmann seine Aufwartung zu machen.
    Der Geheimrat beeindruckte ihn sehr. Er hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einer russischen Exzellenz: kein üppiger Bartwuchs, keine Hochnäsigkeit im Benehmen, keine gespreizte Geschwätzigkeit. Der Mann war energisch, modern, wortkarg. Selbst auf seiner Visitenkarte stand nichts Überflüssiges. Sein Generalsrang war wegen Zweitrangigkeit weggelassen, nur das Amt war genannt – Direktor des ZSK (Zentralen Statistikkomitees). Fandorin hatte noch gedacht: Wenn bei uns jetzt auch Abkürzungen verwendet werden, strebt Russland tatsächlich schon ins 20. Jahrhundert, in dem Schnelligkeit und Sparsamkeit alles entscheiden werden.
    Fandorin gewann aus dem Vortrag und dem Gespräch eine Fülle von interessanten Informationen.
    Die Zählung aller Untertanen des großen Reiches (nach annähernder Berechnung cirka 100 Millionen Seelen) sollte an einem einzigen Tag erfolgen, dem 28. Januar 1897. Um das gewaltige Vorhaben realisieren zu können, würden die Zählbeauftragten vorher jeden Hof und jedes Haus aufsuchen, um die Fragebögen vorzubereiten und die Bevölkerung über den Sinn der Volkszählung aufzuklären. Diese Arbeit, die mehrere Wochen in Anspruch nehmen würde, sollten 135   000 Statistiker und freiwillige Helfer verrichten – Intelligenzler, lese- und schreibkundige Bauern, ehemalige Soldaten und Geistliche.
    Sodann sollten binnen vierundzwanzig Stunden die Fragebogen ausgefüllt und an das ZSK geschickt werden. Dieser Champion des Fortschritts würde für die Erfassung der Angaben die neueste Zähltechnik verwenden. Amerikanische Hollerithmaschinen würden die Informationen über die hundert Millionen Menschen sortieren und einordnen, und zwar nach den in der Befragungvorgegebenen Merkmalen: Religion, Geschlecht, Alter, Familienstand, Beruf und so weiter und so fort.
    In New York, in der 15. Etage des Wolkenkratzers Bowling Green, wo das aufgeklärte Forum tagte, war es nicht schwer, an diesen Triumph des Fortschritts zu glauben. Doch kaum schloss Fandorin für einen Moment die Augen und vergegenwärtigte sich die Weiten seines Landes und die mürrischen Mienen der Bewohner, so kamen ihm sogleich ernsthafte Zweifel. War das nicht Illusion, Träumerei?
    Er schrieb an einen alten Freund in Petersburg, der durch seine Position über alle wichtigen staatlichen Vorhaben unterrichtet war, und fragte nach seiner Meinung. Die Antwort war skeptisch: Ja, die Mittel seien bewilligt, in erheblichem Umfang sogar, die Arbeit habe begonnen und komme zügig voran, doch die Aussichten seien zweifelhaft. So sei zum Beispiel nicht klar, wie man die Bewohner der halbräuberischen Kaukasus-Aule oder die mittelasiatischen Nomaden zählen solle oder, schlimmer noch, die Altgläubigen 2 im Transwolgaland oder in Stershenez, für die jedwede Initiative der Macht gleichbedeutend war mit dem Weltende und der Ankunft des Antichristen.
    Als Fandorin von den Altgläubigen las, entschied er sich endgültig, nach Russland zu fahren, und zwar unbedingt in den Norden. Er wollte mit eigenen Augen sehen, wie das zwanzigste Jahrhundert auf das siebzehnte traf und wie das vorpetrinische Russland auf Hollerithlochkarten

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