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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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schwarzen Mantel ist der Untersuchungsführer Lebedew. Wenn der nach Denisjewo gekommen ist, muss ein Verbrechen geschehen sein, und kein geringes … Ich grüße Sie, Christofor Iwanowitsch! Was ist hier passiert?«
    Der Untersuchungsführer drehte sich um.
    »Aloisi Stepanowitsch? Sie kommen in Sachen Volkszählung? Ach, sehr zur Unzeit.«
    »Was ist denn los?«
    Die Beamten begrüßten den Vorsitzenden mit Handschlag, vom Geistlichen nahmen sie den Segen entgegen, und Fandorin nickten sie höflich zu, mehr nicht, so als wollten sie sagen, nach Vorstellen stehe ihnen jetzt nicht der Sinn. Die beiden Zivilisten unterhielten sich konzentriert mit gedämpfter Stimme und würdigten die Neuankömmlinge kaum eines Blicks.
    Kryshow, der eben noch neben Fandorin gestanden hatte, war plötzlich verschwunden. Fandorin blickte sich um, fand ihn jedoch auch in der Menge nicht.
    »Die netten Altgläubigen haben sich wieder ein tolles Stück geleistet«, erzählte der Untersuchungsführer Lebedew böse. »Eine ganze Familie hat sich lebendig in der Erde eingegraben. Mann, Frau und Säugling, acht Monate alt … Das wird Wirbel machen! Und wir wollen ein aufgeklärtes Land sein. Eine Schande für ganz Europa!«
    »Eingegraben?«, ächzte Kochanowski. »Etwa wegen der Volkszählung?«
    »Natürlich. Vor lauter Angst, die Holzköpfe. Wir graben sie gerade aus. Eine Leiche haben wir schon …«
    Der Diakon Warnawa schluchzte auf und bekreuzigte sich. BeimDechanten löste die Nachricht eine sonderbare Reaktion aus: Er schmatzte mit den dicken roten Lippen, blähte aufgeregt die Nüstern und wich zurück in die Menge, nur seine hohe violette Kamilawka schwankte über den Köpfen.
    Aber das Verhalten des Geistlichen beschäftigte Fandorin jetzt am wenigsten. Bis zum zwanzigsten Jahrhundert blieben drei Jahre, und im Nordosten des europäischen Kontinents legten sich Menschen lebendig ins Grab, weil sie vor einer Volkszählung Angst hatten! Kryshow hatte ja gewarnt, doch wer hätte geglaubt, dass so etwas tatsächlich geschehen könnte?
    »Vielleicht gibt es einen anderen G-Grund?«, fragte er den Untersuchungsführer.
    Der winkte nur ab.
    »Was denn noch? Oben auf der Mine lag ein Zettel. Sie können ihn ja lesen.« Und er entnahm der Aktentasche ein sorgsam gefaltetes Blatt.
    Was das Wort »Mine« hier bedeutete, wusste Fandorin nicht, und zum Fragen kam er nicht mehr, denn der Polizeichef rief den Untersuchungsführer beiseite.
    Dafür war Kryshow auf einmal wieder da. Sein Gesicht wirkte angespannt und düster.
    »Nun weiß ich alles«, sagte er und rieb sich nervös die Hände. »Ich habe mit den Alten gesprochen. Schrecklich, Mittelalter. In Denisjewo wurde die erste Nachricht von der Volkszählung noch vergleichsweise ruhig aufgenommen. Das Dorf ist wohlhabend, alle können lesen und schreiben. Doch seit kurzem war es plötzlich wie ein Brand: Alle redeten nur noch vom Ende der Welt. Sie hätten erfahren, in höchstens zwei Wochen würde der Antichrist erscheinen. Wer sich nicht selbst rette, werde in der Hölle braten. Damit fing es an. Die einen weinten, andere beteten, noch andere verabschiedeten sich von ihren Angehörigen. Der Starosta ist ein gescheiter Mann. Er ging von Haus zu Haus, sagte: ›Nur nichts überstürzen,auch gegen den Antichristen wird sich ein Mittel finden, Gott wird ein Zeichen senden.‹ Viele konnte er überzeugen abzuwarten. Aber nicht alle. Sawwati Chwalynow, der beste Zimmermann im Dorf, hat anders entschieden. Vor sechs Tagen legte er sich mit Weib und Kind in die Mine. Das ist eine Art Erdgruft, eigentlich ein Grab. Darin haben sich die heiligen Mönche während der Verfolgungen der Altgläubigen selbst eingegraben. Sie hüllten sich in Leichengewänder, stiegen hinunter in die Höhle, verschütteten den Eingang, legten sich hin, zündeten Kerzen an und sangen, solange die Luft reichte. Als im Herbst die ersten Gerüchte von der Zählung hier umgingen, hatten die Leute nichts anderes zu tun, als versteckte Minen anzulegen. Unsere schlauen Beamten dachten, die Altgläubigen wollten nur die Behörden erschrecken, damit die ihre ›teuflische Idee‹ aufgäben. Und nun haben wir den Salat …«
    »Der Zimmermann hat sich mit seiner Familie vor s-sechs Tagen in die Mine gelegt? Wieso werden sie erst jetzt ausgegraben?«
    »Der Starosta hat’s versucht, doch man hat ihn nicht gelassen. Es gilt als schwere Sünde, eine ›Rettung‹ zu behindern. Aber vor Gericht gestellt werden wollte er auch nicht.

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