Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
erschienen. Yazi
sah zahllose Reihen von Kriegern in bunten Jacken durch die vor
Kurzem noch blutgetränkte Straße ziehen. Zu diesem Anlass
hatten einige von ihnen die Tücher von ihren Köpfen
entfernt und stellten stolz unrasierte Schädel und bis zu den
Schultern wallendes Haar zur Schau. Der Zopf, wie Yingxiong ihn
getragen hatte, galt als Zeichen der Mandschus, daher hatten die
Klugen unter Nanjings Einwohnern ihn sich bereits abgeschnitten. Yazi
erkannte eine entschlossen einherschreitende Pofu, hinter der
tatsächlich eine Schar von muskulösen Frauen mit Schwertern
und Messern am Gürtel herging. Sie waren Teil einer ganzen
Kriegerinnenschar, die von einer berittenen Frau in einem langen,
prächtig verzierten Seidengewand angeführt wurde. Es musste
Hong Xuanjiao sein, jene kampferprobte Schwester des himmlischen
Königs. Yazi musterte ihr scharfes, vornehm geschnittenes
Profil, das sie an einen Raubvogel erinnerte. Es war hart wie Stein,
von Stolz erfüllt, aber insgesamt anziehend, obwohl ihm jegliche
Zerbrechlichkeit fehlte. Kurz überlegte sie, was für ein
Gefühl es sein musste, zu der Gefolgschaft dieser Frau zu
gehören, dann wurde ihre Aufmerksamkeit auch schon von einer
anderen Erscheinung in den Bann gerissen. Das Gewicht einer
prachtvoll vergoldeten Sänfte, deren Dach fünf weiße
Kraniche zierten, ruhte auf den Schultern von sechzehn Trägern.
Ein mittelgroßer, eher unscheinbarer Mann mit dem schmalen
Gesicht eines Gelehrten saß darin. Eine goldbestickte
Kopfbedeckung in der Form eines Fächers zierte sein Haupt, sein
blauschwarzes Haar wallte über die gelbe Seide seiner Robe, ja
selbst seine Füße steckten in Schuhen von dieser Farbe.
Gelbe
und goldfarbene Kleidung zu tragen war ein Privileg des Kaisers.
Ohne
Zögern warf Yazi sich neben all den anderen Einwohnern Nanjings
zu Boden, um Hong Xiuquan, Gottessohn und himmlischen König, als
neuen Herrn der Stadt zu begrüßen. Gesang erfüllte
die Luft. Kurz wagte Yazi es, den Kopf zu heben. Sie erblickte eine
Reihe junger, schöner Mädchen mit Blüten im Haar, die
auf Pferden hinter der Sänfte her ritten. Jede von ihnen trug
einen seidenen Sonnenschirm. Sie wirkten so zart und lieblich, dass
sie als Teil des mörderischen Taiping-Heeres unwirklich
schienen.
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Als
die Prozession vorbeigezogen war, standen die Einwohner Nanjings
allmählich auf, um flüsternd, klagend und aufgebracht die
veränderte Lage zu besprechen. Der unerschütterliche Quan
Li Shao beruhigte seine Bediensteten und seine weinende Ehefrau. Yazi
wischte den Straßenstaub von ihrer Kleidung und wollte ins Haus
zurückgehen, um nach Chuntian zu sehen, als jemand im
Hintergrund ihren Namen rief. Sie versteinerte, denn sie war schon
lange nicht mehr zweite Herrin genannt worden.
»Wir
dachten, du wärest tot. Aber da bist du ja, den Göttern sei
Dank!«
Der
ranghöchste Hausdiener der Rongs kam über die Straße
auf sie zugeeilt.
»Du
musst heimkehren, Herrin. Man hat nach dir gesucht. Das Haus der
Rongs ist unversehrt geblieben, fürchte dich nicht.«
Ratlos
blickte Yazi sich um. Sie konnte auf der Stelle davonlaufen und
versuchen, sich irgendwo in der verwüsteten Stadt zu verstecken,
aber dann musste sie Chuntian zurücklassen. Quan Li Shao sah sie
bereits staunend an.
»Ich
dachte, du wärest eine einfache Frau, eine Bedienstete«,
meinte er. »Aber wenn du zur Familie Rong gehörst, dann
gehe nach Hause.«
Sie
senkte den Blick. Welchen Sinn hatte es, den Schneider anzuflehen? Er
kam wie zufällig einen Schritt näher und flüsterte
rasch:
»Du
wolltest davonlaufen, nicht wahr? Warte eine Weile. Hier werden sich
bald viele Dinge ändern. Du wirst eine Gelegenheit finden, aus
dem Haus zu entkommen. Aber jetzt musst du erst einmal zurück,
ich kann dir nicht helfen.«
Er
zwinkerte ihr aufmunternd zu, und sie gehorchte.
******
Aufgrund
der außergewöhnlichen Lage wurde Yazis mehrtägiges
Verschwinden ungestraft hingenommen. Auch Chuntians befreite Füße
schienen niemanden zu stören, da den Hausherrn nun ganz andere
Sorgen plagten als die Zukunft seiner Enkeltochter. Yazi konnte
ungestört ihre alten Gemächer beziehen, wo neue Tage der
trägen Untätigkeit auf sie warteten. Die anderen Frauen
hielten nun wieder Abstand von ihr, beäugten sie mit sichtlichem
Misstrauen, da ihre Abwesenheit nach dem Eindringen der Taiping wohl
als verdächtig empfunden
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