Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
gefiel ihr nicht, denn
obwohl die Soldatin sich streng an alle Regeln gehalten hatte, schien
ihr Verhalten eben dadurch unsinnig und zudem grausam.
»Vielleicht
sollte man ihren Wunsch einfach erfüllen. Es ist doch nichts
Schlimmes daran, wenn sie ihre Füße wieder einbindet«,
meinte sie schließlich. Das Gesicht der Soldatin versteinerte
zu einer strengen Maske.
»Der
himmlische König hat es verboten.«
Yazi
spürte einen Schatten in ihrem Rücken und wandte den Kopf.
Sie war nicht wirklich überrascht, Andrews Gesicht zu sehen.
Ohne weitere Fragen zu stellen, griff er nach der ausgemergelten Frau
und trug sie wie ein Kind in seinen Armen vom Feld, um sie sanft auf
das Gras zu legen. Dann strichen seine Hände über ihre
verkrümmten Füße. Yazi wollte ihn darauf hinweisen,
dass gerade die Frauen der Han ihre Füße als sehr
persönliches Körperteil betrachteten, das kein Fremder
berühren sollte, doch das erleichterte Lächeln auf dem
Gesicht der Alten machte die Ermahnung überflüssig.
»Sie
ist alt, ihre Füße können nicht mehr heilen«,
meinte er zu Yazi, die an seine Seite getreten war. »Sie
braucht ihre Bandagen, denn ihr Körper hat sich daran gewöhnt.«
»Wer
ist dieser Mann«, erklang sogleich die Stimme der Soldatin.
»Wieso erlaubt er sich …«
Yazis
energische Handbewegung brachte sie zum Schweigen.
»Bring
die Bandagen und lass sie ihre Füße wieder einbinden.
Sofort!«, herrschte sie die Soldatin an, denn ein sanfterer
Tonfall hätte nur zu Widerspruch geführt. Sie bemerkte
einen trotzigen Gesichtsausdruck, doch als sie selbst ihre Miene noch
etwas grimmiger werden ließ, wurde ihr gehorcht.
Die
alte Frau strahlte, sobald ihre Füße wieder in den
vertrauten Fesseln steckten. Gestützt von Andrew, vermochte sie
ein paar Schritte zu laufen. Schließlich kauerte sie wie alle
anderen auf dem Feld und pflanzte Setzlinge ein.
»Du
wirst sie niemals wieder anschreien, denn sie arbeitet fleißig!«,
zischte Yazi der Soldatin zu, bevor sie sich entfernte. Entsetzt
bemerkte sie das Zittern ihrer eigenen Hände. Soeben hatte sie
einem Befehl des himmlischen Königs zuwider gehandelt und es war
durchaus möglich, dass eine Beschwerde an seine Ohren gelangen
konnte. Aber Andrews anerkennender Blick versöhnte sie für
den Augenblick mit der Gefahr.
******
Als
sie wieder nach Nanjing kamen, war Yazi erstaunlich leicht und
beschwingt zumute. Sie empfand Stolz, eine schwierige Lage bestens
gemeistert zu haben. Vielleicht konnte sie Hong Xiuquan erklären,
weshalb seine Anordnung in diesem Fall nicht ihren Zweck erfüllt
hatte. Wie sollte ein Mann sich in die Lage einer Frau mit Lotusfüßen
versetzen können?
Ihr
wurde bewusst, dass der Mann, neben dem sie soeben durch das Stadttor
ritt, es gekonnt hatte. Wieder empfand sie ein unerklärliches
Gefühl von Wärme in der Gegenwart dieses Lao Wai. Zaghaft
wandte sie ihm den Kopf zu und spürte sein Lächeln wie
einen sanften Windhauch. Die Zeit, da sie eine baldige Abreise der
Fremdlinge herbeigesehnt hatte, schien so weit zurückzuliegen,
dass sie der verschwommenen Erinnerung an einen Traum glich. Als
Andrew einen gemeinsamen Streifzug durch die Stadt in der
Abenddämmerung vorschlug, nickte sie nur, denn es gehörte
zu ihren Aufgaben, ihn zu begleiten. Doch schien es ihr fast
schändlich, mit wie viel Freude sie der Erfüllung dieser
Pflicht entgegensah.
Sie
brachte Andrew zu seiner Unterkunft und ritt dann mit Chuntian zu
ihrem Guan, wo bald das Abendmahl aufgetischt werden würde.
Nachdem sie die Pferde der Dienstmagd übergeben hatte, betrat
sie ihr Zimmer, legte die Uniformjacke ab und befreite ihr Haar von
dem gelben Tuch, das sie nach Art der Taiping um den Zopf gewickelt
hatte, um es dann wie eine zusammengerollte Schlange auf dem Kopf zu
befestigen. Yazi öffnete eine Truhe, um bequeme Hauskleidung für
sich und Chuntian herauszusuchen. Sie ertappte sich bei einem
Gedanken, der ihr sonst völlig fremd war, nämlich was sie
bei dem abendlichen Spaziergang mit Andrew tragen würde. In
ihrer Funktion als Leibgardistin wären wieder die Uniform sowie
ein Kurzschwert angebracht gewesen, doch Yazi betrachtete stattdessen
versonnen den bestickten Hakka-Rock und die indigoblaue Jacke. Ihr
Hochzeitsgewand war immer noch das schönste Kleidungsstück,
das sie besaß. Dann holte sie den Drachenhut, der Offizieren
höherer Ränge
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