Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
»Leider sind dem religiösen Eifer der Taiping schon
viele Kunstwerke von unschätzbarem Wert zum Opfer gefallen.«
Yazi
fuhr zusammen. Sie dachte an Lanhua und die anderen Mandschu-Damen,
an Jinjing und all die vielen Menschen, deren Blut sie in den letzten
Jahren hatte fließen sehen. Warum klagte Andrew nun über
zerschmettertes Porzellan?
»Die
Gebote des himmlischen Herrn verbieten die Darstellung fremder
Götter. Wissen die Christen des Westens dies denn nicht?«,
fragte sie ungeduldig. Andrew antwortete nicht sogleich. Völlig
ruhig griff er in einen mitgebrachten Beutel, um zwei gefüllte
Teigtaschen und eine fest verstöpselte Flasche herauszuholen.
Yazi nahm das Essen an, obwohl ihr Magen wie zugeschnürt war.
Sie vermochte nicht unhöflich zu sein, doch bereits der erste
Biss ließ sie würgen.
»Schon
gut. Du brauchst wohl erst einmal einen Schluck Reisschnaps«,
meinte Andrew gelassen. Er entstöpselte die Flasche und hielt
sie Yazi hin.
Sie
sog den verbotenen Duft ein. Der Konsum von Rauschgetränken war
in Tianjing nicht gestattet, ebenso wenig wie der von Opium.
»Man
kann hier alles bekommen, wenn man weiß, wo es zu beziehen
ist«, beantwortete Andrew ihre unausgesprochene Frage. »Nun
trink schon, es wird dir gut tun. Und Gott wird dich nicht mit dem
Blitz erschlagen, glaube mir, ich habe schon genug sturzbetrunkene
Christen gesehen. Die göttliche Strafe beschränkte sich auf
die üblichen Kopfschmerzen am nächsten Morgen.«
Wieder
war dieses belustigte Funkeln in seinen Augen, das sie nicht zu
deuten vermochte. Unter anderen Umständen hätte Yazi sich
geweigert, der Versuchung nachzugeben, doch nun schrie ihr Körper
nach ein wenig Entspannung und ihr Geist wollte abgelenkt werden. Sie
nippte an der Flasche, fühlte sogleich ein wohltuendes Brennen
in ihrer Kehle. Ein weiterer, tieferer Schluck gab ihr bereits ein
befreiendes Gefühl von Leichtigkeit. Sie zischte empört,
als ihr die Flasche gewaltsam entrissen wurde.
»Nicht
alles auf einmal, tapfere Kriegerin. Sonst wird Gottes Strafe am
nächsten Morgen tatsächlich grausam sein.«
Yazi
durchbohrte Andrew mit einem zornigen Blick, doch der feine Spott in
seinen Augen erwies sich als erstaunlich widerstandsfähig.
»Willst
du mir nun erzählen, weshalb du so aufgebracht bist?«,
fragte er nur.
»Ich
bin keineswegs aufgebracht«, erwiderte sie und begann
gleichzeitig zu begreifen, warum er sie nicht ernst nahm. Sie war nie
eine gute Lügnerin gewesen.
»Gut,
dann beantworte ich jetzt deine Frage von vorhin«, meinte er
gleichmütig. »Ja, es gibt ein biblisches Verbot der
Darstellung Gottes. Und natürlich der Anbetung anderer Götter.
Auch die Christen des Westens zerstörten deshalb Kunstwerke von
unbeschreiblichem Wert. Doch wir hatten viele Jahrhunderte Zeit, aus
unseren Fehlern zu lernen.«
Er
lehnte sich seufzend zurück.
»Ich
habe es immer an den Chinesen geschätzt, dass dieser Irrsinn
hier nicht stattfand«, fuhr er fort. »Buddhisten,
Daoisten und Konfuzianer vermochten, Seite an Seite zu leben, ohne
sich um ihres Glaubens willen gegenseitig zu massakrieren. Dann hörte
ich von dem chinesischen Sohn des christlichen Gottes und wurde
neugierig. Er schien so viel Gutes aus unserem Glauben zu lernen, das
seinem Land helfen konnte. Landbesitz wurde gerecht verteilt, die
starre Rangordnung durchbrochen und Frauen sind nicht nur rechtloses
Eigentum von Männern. Deshalb wollte ich nach Nanjing. Doch nun
scheint es mir, dass hier viele Fehler wiederholt werden, die ich aus
der Geschichte meines Volkes kenne. Warum wurde diese Pagode
beschädigt?«
»Weil
sie mit heidnischen Götzenbildern geschmückt ist«,
entgegnete Yazi. Es war so offensichtlich, dass sie seine Frage nicht
begreifen konnte.
Andrew
wandte sich erneut um und ließ seine Finger versonnen über
die Umrisse eines Phönixes mit schwungvoll gespreizten Flügeln
fahren.
»Wer
auch immer diese Figur schuf, legte all sein von Gott verliehenes
Talent in seine Arbeit. Der Anblick dieser Pagode schenkt Menschen
Freude, lässt sie den Atem des Göttlichen spüren, auch
wenn sie keine Buddhisten, keine Daoisten, ja nicht einmal Chinesen
sind. Der Kern des christlichen Glaubens ist die Liebe zu anderen
Menschen. Wie kann ich etwas vernichten, in dem das Herzblut
fleißiger, begabter Handwerker liegt? Warum soll ich
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