Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
verrichten. Auf jeden Fall wollte sie fort aus
diesem himmlischen Königreich, bei dessen Aufbau sie mitgeholfen
hatte und in dem nun grauenhafte Dinge geschahen.
Die
Jahre als Soldatin hatten Yazi gelehrt, Panik zu ersticken und einen
klaren Kopf zu bewahren, selbst wenn es in ihren Ohren rauschte. Nun
tat sie ein paar tiefe Atemzüge. Es gab sicher einen Ausweg.
Bisher hatte sie immer einen gefunden.
»Der
himmlische König hat seine alten Verbündeten, Shi Dakai,
den Flügelkönig, und Wei Changhui, den König des
Nordens, wieder in die Stadt gerufen«, fiel ihr schließlich
ein. »Ich glaube, er sucht ihre Unterstützung, um Yang
Xiuqings Treiben Einhalt zu gebieten.«
Sie
rückte näher an die immer noch reglose Pofu heran und wagte
es zum allerersten Mal, über deren Arm zu streichen.
»Shi
Dakai ist ein kluger, tapferer Mann ohne irgendwelche Anmaßungen.
Vor dir hatte er stets große Achtung. Du musst gleich nach
seiner Ankunft zu ihm gehen und ihm von dem Fall berichten. Er wird
natürlich wollen, dass Jinjings Respektlosigkeit bestraft wird,
aber es wird eine maßvolle Strafe sein.«
Hoffnungsvoll
lächelte sie in Pofus Gesicht, doch die Generalin schüttelte
die streichelnde Hand nur unwirsch ab.
»Jinjing
soll noch heute Abend sterben«, zischte sie. »Und Shi
Dakai ist nicht hier.«
5. Kapitel
Yazis
Füße trugen sie zu Andrews Unterkunft, doch fühlten
sie sich wie Stelzen an, die nicht zu ihrem Körper gehörten.
Sie musste ihre Pflicht erfüllen. Dieser Gedanke schenkte ihr
ein klein wenig Ruhe, war ein Ast, an den sie sich klammerte, um
nicht in völliger Verzweiflung zu versinken. Mechanisch betrat
sie das Gästehaus und teilte dem Diener mit, wen sie abholen
sollte.
Andrew
kam sofort. Er trug wieder eine chinesische Jacke, doch diesmal war
sie aus Seide und mit Stickereien verziert. Yazi unterdrückte
ein bitteres Lachen. Sie hatte sich selbst schön machen wollen,
doch jetzt schien all dies so unwichtig!
»Ist
etwas vorgefallen«, fragte Andrew, nachdem er einen Blick in
ihr Gesicht geworfen hatte. »Geht es um Chuntian?«
Yazi
schüttelte nur den Kopf. Sie vermochte nicht zu reden, denn die
Diener hörten zu. Zudem hätten Worte den Knoten in ihrer
Kehle gelöst, mit dem sie mühsam die Tränen
zurückhielt.
»Lass
uns losgehen«, meinte er nur und legte zu ihrem Entsetzen eine
Hand auf ihre Schulter. Männer und Frauen berührten
einander im himmlischen Königreich nicht. Dennoch tat die Wärme
seiner großen, von weizenfarbenem Haar überwachsenen Hand
erstaunlich wohl.
»Gehen
wir zur Porzellanpagode. Die wollte ich schon lange besichtigen.«
Yazi
sah ihn verwirrt an. Die Pagode war bereits nach der Eroberung
Nanjings teilweise zerstört worden, da sie Götzenfiguren
enthalten hatte. Aus irgendeinem Grund hatten aber die Lao Wai,
obwohl selbst Christen, großes Interesse an ihr. Einige von den
per Schiff angereisten Besuchern waren vor ein paar Jahren bereits
verhaftet worden, als sie versucht hatten, die Ruine zu erklimmen.
Und nun fing Andrew auch damit an! Doch fehlte Yazi die Kraft zu
widersprechen und sie deutete mit einem kurzen Nicken an, dass er ihr
folgen sollte.
Die
Pagode stand ein Stück vom bewohnten Stadtkern entfernt, war von
Wiesen und Gebüsch umgeben, obwohl sie noch innerhalb der
äußeren Schutzmauer von Nanjing lag. Als sie dort
angekommen waren, überkam Yazi dennoch ein Gefühl der
Erleichterung, denn die Gegend war menschenleer und ein frischer
Abendwind strich kühlend über ihre verschwitzte Haut. Sie
ließen sich am Fuße des Turmes nieder. Yazi schloss für
einen Moment die Augen, um die Stille und den Duft der nahenden Nacht
zu genießen. Das Rasen ihres Herzens ließ allmählich
nach.
»Diese
Pagode ist ein Meisterwerk«, hörte sie Andrew
ehrfurchtsvoll sagen und betrachtete nun erstmals eindringlich den
hinter ihr in den Himmel ragenden Turm. Grüne, gelbe, weiße
und braune Farben schimmerten wie Juwelen im Licht der untergehenden
Sonne. Auf einmal schienen die Götzenbilder tatsächlich von
derart feiner, betörender Schönheit, dass sie den Blick
nicht abwenden konnte. Waren diese Figuren von Elefanten, Drachen und
friedlich lächelnden Buddhas tatsächlich das Werk von
Dämonen, wenn ihr Anblick so wohltuend bezaubern konnte?
»Ich
hoffe, man wird sie nicht ganz vernichten«, meinte Andrew auch
schon.
Weitere Kostenlose Bücher