Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
meinen
Nachkommen die Möglichkeit nehmen, so vollkommene Schönheit
zu sehen?«
Yazi
vernahm ein Rauschen in ihrem Kopf. Diese Worte waren so betörend
und klangvoll wie jene alten Gedichte, die Yingxiong ihr manchmal
vorgelesen hatte, doch gleichzeitig stellten sie jede Ordnung auf den
Kopf und hinterfragten alles, woran sie zu glauben gelernt hatte.
»Die
Pagode steht ja noch«, meinte sie nur, denn das Gespräch
war ihr im Augenblick zu anstrengend.
»Aber
bist du denn der Meinung, dass sie zerstört werden sollte?«,
bohrte Andrew hartnäckig nach. Yazi musterte ihn fassungslos.
Niemals in ihrem Leben war sie von einem Mann nach ihrer Meinung
gefragt worden. Selbst für ihren Vater, der sie gemocht hatte,
und auch für Yingxiong zu der Zeit, da eine Art Freundschaft
zwischen ihnen bestanden hatte, war sie nur eine Kreatur gewesen, die
Belehrungen brauchte, da sie glücklicherweise klug genug schien,
diese zu verstehen.
Für
eine Weile begann Yazi zu grübeln, wog den Zauber der Pagode
gegen das klare Gebot Huang Shangdis ab und suchte nach einer
passenden Lösung des Problems. Es machte erstaunlich viel
Freude, derartigen Gedanken nicht nur allein nachzuhängen,
sondern einen klugen Menschen neben sich zu haben, der wirklich
interessiert schien, sie zu hören. Yazi war gerade eingefallen,
dass die Pagode vielleicht als Beispiel für herausragendes
künstlerisches Schaffen dienen konnte, doch müsste
gleichzeitig darauf hingewiesen werden, dass sie von Anhängern
einer falschen Religion erbaut worden war.
Dann
wandte sie sich nochmals um, wollte die Reliefs der Pagode mustern,
deren Farben in der Abenddämmerung glühend leuchteten, als
habe jemand ein Feuer hinter ihnen entzündet.
Feuer.
Flammen. Sie brachten den Tod.
Yazi
wandte rasch den Blick ab und ballte ihre Hände zu Fäusten.
Diesmal half auch ruhiges, konzentriertes Atmen nicht, das Grauen
überwältigte sie wie ein Raubtier. Während sie hier
über den Wert uralter, lebloser Porzellanfiguren nachdachte,
wurde Jinjings Leib zu einem Haufen von Asche, Knochen und Zähnen
verbrannt. Wäre sie es Jinjing nicht schuldig gewesen, bei ihrer
Hinrichtung anwesend zu sein, um ihr wenigstens durch Blicke
beizustehen? Stattdessen war sie zu einem Ausflug aufgebrochen, hatte
Pofu allein gelassen, nur um für eine Weile vergessen zu können.
Sie
krümmte sich und presste eine Faust gegen ihren Mund, bohrte die
Zähne in ihre Fingerknöchel. Der Reisschnaps stieg wieder
aus ihrem Magen. Während sie hustend würgte, legte eine
große, warme Hand sich auf ihren Rücken.
»Nun
sag mir endlich, was vorgefallen ist«, forderte Andrew völlig
ruhig. Yazi wischte sich den Mund ab. Morgen wäre es ihr
wahrscheinlich unangenehm, wie sehr sie vor diesem Lao Wai ihr
Gesicht verloren hatte. Doch nun sehnte sie sich nur noch nach einem
Menschen, der bereit war zuzuhören.
Sie
lehnte sich gegen die prächtig verzierte Pagode und begann zu
reden. Tränen flossen über ihre Wangen. Andrews Gesicht
vermochte ihr keinen Trost zu spenden, es war wie ein Spiegel, in dem
sie ihre eigenen Empfindungen erkannte. Dann sah sie, wie seine
langen Beine sich regten.
»Wir
müssen in die Stadt. Wir müssen es verhindern«, stieß
er zunächst auf Mandarin hervor, um dann in seiner
unverständlichen Sprache vor sich hin zu murmeln, während
er aufsprang. Yazi legte ihre Finger auf seine behaarte Hand.
»Sie
ist bereits tot. Und niemand hätte es verhindern können.
Der König des Ostens hat zu viele Anhänger in der Stadt.«
Andrews
Augen waren blau und weit wie der Himmel an einem strahlenden
Sommertag.
»Du
hättest es mir gleich sagen müssen. Ich hätte meine
Freunde überzeugen können einzugreifen. Die Könige
wollen unsere Waffen und …«
»Und
Yang Xiuqing hätte auch deshalb nicht auf eine Hinrichtung
verzichtet«, unterbrach Yazi. »Vielleicht wäre
Jinjing ein wenig später gestorben, nach der Lieferung, doch
sein Urteil hatte er gefällt und damit war sie eigentlich schon
tot.«
Sie
erschrak selbst, wie sicher sie klang. Als wären Härte und
Grausamkeit in ihrer Welt so selbstverständlich geworden, dass
sie keinen Ausweg mehr sah.
Andrew
streckte die Arme nach ihr aus. Ohne weiter zu überlegen, sank
sie ihm entgegen, um wieder ein wenig Güte spüren zu
können. Wie warm sein langer, schlaksiger Körper war! Ein
fremder
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