Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
betrifft, denn sonst … bei so vielen
Hinrichtungen … er hätte zu viele gute Kämpfer
verloren.«
»Auch
ohne Hinrichtungen wären ihm andernfalls die Untertanen
ausgegangen. Nein, ihm vielleicht nicht, aber seinem Nachfolger, dem
göttlichen Enkel«, führte Andrew ihre Gedanken zu
Ende. Yazi wollte erklären, dass es nur ein vorübergehendes
Verbot hatte sein sollen, sobald das himmlische Königreich in
seiner Blüte stand, sollte es aufgehoben werden. Aber sie konnte
Andrews Gesicht ansehen, dass ihm jede Bereitschaft fehlte, diese
Unterhaltung ernst zu nehmen. War den Lao Wai denn nichts heilig?
»Nicht
alles, was Hong Xiuquan getan hat, ist schlecht oder lachhaft«,
hörte sie sich empört ausrufen. »Bevor er kam, da
führte ich ein leeres Leben. Er gab mir eine Aufgabe, Hoffnung,
sorgte für die Armen und Rechtlosen und …«
»Schon
gut!«, unterbrach Andrew und legte wieder seine riesige, warme
Hand auf ihren Rücken. »Viele seiner Ideen sind ja gar
nicht schlecht, nur sollten sie nicht mit derartiger Brutalität
durchgesetzt werden. Unsere Religion lehrt Liebe und Barmherzigkeit.
Aber das haben wir selbst in unserer Geschichte immer wieder
vergessen.«
Yazi
hatte oft gehört, dass die Lao Wai stets meinten, alles besser
zu wissen, doch lag ein sanfter, zärtlicher Klang in diesen
Worten, der sich wie ein warmes Tuch über ihren Zorn legte.
»Du
bist ein Teil des Guten, das hier entstanden ist«, streichelte
seine Stimme sie weiter. »Die Art, wie du dieser Frau mit den
hoffnungslos zerstörten Füßen geholfen hast, das war
mutig und gerecht. Der himmlische König bräuchte mehr
Untertanen wie dich, die seine Macht ein wenig einschränken
sollten.«
Yazis
Körper entwickelte einen eigenen Willen. Er drängte sich in
Andrews Umarmung, wollte mehr Wärme und Trost spüren, als
ihm jemals vergönnt worden war. Sie konnte die Kanten seiner
Knochen fühlen, er war zwar groß, aber weniger wuchtig als
die zwei anderen Lao Wai, mit denen er gekommen war. Das gefiel ihr.
Die runden, himmelfarbenen Augen gefielen ihr ebenfalls, denn sie
strahlten, als sei der Anblick einer sonnenverbrannten Hakka-Frau
Grund für unermessliches Glück. Yazi ließ zu, dass
seine Wange an der ihren lag und sie staunte, ein Kratzen zu
verspüren. Seine Bartstoppeln waren so hell, dass sie fast
unsichtbar blieben. Die Umarmung wurde enger und sie vernahm seinen
Herzschlag, der erstaunlich schnell und laut schien. So wie ihr
eigener.
Als
seine Lippen sich auf die ihren legten und sie den Geschmack des
Reisschnapses auf seiner Zunge wiederentdeckte, wusste sie, dass eine
Grenze überschritten wurde. Die unbekannte Sehnsucht
überwältigte sie erneut, diesmal mit ungeahnter Heftigkeit,
ließ sie nach dem hochgeschossenen, schlaksigen Lao Wai
greifen, als würde sie ohne seine Nähe in finstere Tiefen
stürzen. Nun ahnte Yazi, dass es tatsächlich die
Vereinigung ihrer beiden Körper war, nach der sie sich
verzehrte. Ohne Zwang, ohne Gewalt, sondern aus beiderseitigem
Verlangen. Sie hatte niemals verstanden, warum es auch einigen Frauen
schwergefallen war, das Verbot der Unzucht einzuhalten. Nun begriff
sie. Und sie begriff auch die Gefahr, in der sie beide schwebten.
Jahrelanges
Üben in eiserner Disziplin ermöglichte es ihr, Andrew von
sich zu stoßen. Sie sprang auf die Beine.
»Wir
müssen zurück. Es ist bereits dunkel«, sagte sie so
kalt, wie sie nur vermochte, doch schaffte sie es nicht, ihm dabei
ins Gesicht zu sehen. Schnell wandte sie sich um und begann zu
laufen. In ihrem Rücken vernahm sie das hartnäckige
Geräusch seiner Schritte.
»Sehen
wir uns wieder?«, fragte er nur. Yazi blieb kurz stehen.
»Es
ist meine Pflicht, dich zu schützen«, entgegnete sie.
»Und
kann ich dich auch manchmal abends bei der Pagode treffen, obwohl das
nicht zu deinen Pflichten gehört?«
Da
war er wieder, der feine, zärtliche Spott. Yazi staunte, dass er
sie nicht mehr stach, nur noch sanft kitzelte, sodass sie lächeln
musste. Sie wollte verneinen. Sie konnte es nicht.
»Vielleicht
gelegentlich. Wenn ich keine anderen Aufgaben mehr habe«,
meinte sie kühl. Er gesellte sich an ihre Seite und ging ohne
jeden Protest mit ihr in die Stadt zurück.
******
Es
wurde Herbst, und die glühende Hitze des Sommers verwandelte
sich endlich in milde Wärme. Die Lao Wai lebten weiter in
Nanjing, denn
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