Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Häuser werden durchsucht. Wer
auch nur den Anschein erweckt, mit dem Gemetzel nicht einverstanden
zu sein, schwebt in Lebensgefahr. Chuntian ist so ein sensibles
Mädchen. Ich dachte, bei uns ist sie sicherer, denn wir werden
nicht verdächtigt. Der himmlische König wartet immer noch
auf unsere Waffen.«
Yazi
wurde auf einmal leicht ums Herz, obwohl Andrew eigentlich nicht hier
sein durfte. Den Guan von Frauen zu betreten, war Männern
verboten, doch schienen derartige Vorschriften in dem allgemeinen
Wahnsinn unwichtig geworden zu sein. Ganz gleich was geschah, dieser
Mann würde sich um ihre Tochter kümmern.
»Jetzt
solltest du dich eine Weile hinlegen. Du kannst ja kaum noch stehen«,
murmelte Andrew sanft und schob sie in ihr Zimmer. Yazis Augen wurden
von Tränen überschwemmt. Sie verdiente diese Fürsorge
nicht. Sie war widerwärtiger Abschaum.
»Ich
habe … ich habe … sie sind alle tot«, stammelte
sie und entwand sich Andrews Umarmung.
»Ich
weiß.« Er blieb im Zimmer stehen, während sie auf
ihre Matratze sank. »Aber du hattest keine Wahl. Soldaten
gehorchen. Deshalb habe ich um Armeen immer einen großen Bogen
gemacht, denn Gehorsam liegt mir nicht. Ich bin zum Widerspruch
geboren. Ein nutzloser Nörgler, wie viele meinten.«
Wieder
blitzte der warme Spott in seinen Augen. Auf einmal schien er Yazi so
tröstend wie eine Umarmung. Ohne Zögern streckte sie ihre
Hände nach Andrew aus und lachte vor Freude, als er sich von ihr
auf die Matratze ziehen ließ. Die Verbote Hong Xiuquans waren
unwichtig geworden. Warum sollte sie einem Mörder gehorchen? Er
würde einen Lao Wai nicht belangen, und wenn sie selbst starb,
so war dies eine verdiente Strafe für all das Töten, an dem
sie beteiligt gewesen war. Doch vorher wollte sie Leben spüren,
die Wärme eines Menschen, der sie nicht verdammte, obwohl er
selbst unschuldig war.
******
Auf
Andrews weißer Haut waren rötliche Stellen zu sehen. Sein
fast unsichtbares Haar wuchs auf Brust, Armen und Beinen. Er roch
immer noch fremd, doch sog Yazi diesen Geruch nun genüsslich
ein. Ihr eigener Gestank von Schweiß und Blut hatte
nachgelassen oder schien ihr weniger widerwärtig, da Andrew sie
deshalb nicht zurückgestoßen hatte. Seine Hand lag auf
ihrem Rücken. Die Finger der anderen strichen durch ihr Haar und
massierten ihre Kopfhaut. Sie schlang ihr Bein um seinen Schenkel.
Sie hatte niemals geahnt, wie leicht zwei Körper miteinander
verschmelzen konnten, als seien sie zwei Teile eines Ganzen. Die
Lehre von Ying und Yang, der zwei Gegensätze, die einander
ergänzten, war ihr einst von Yingxiong erklärt worden, doch
erst in diesem Moment hatte sie wirklich einen Sinn bekommen.
»Warum
bist du hierher gekommen, wenn du den Krieg verabscheust?«,
fragte sie, um auch in das Denken dieses Mannes eindringen zu können.
Es sollte keine Barrieren mehr zwischen ihnen geben.
Andrew
stützte sein Kinn auf seine Handfläche und sah ihr ins
Gesicht.
»In
der Heimat meiner Eltern gibt es die Legende von einem Helden, der
die Reichen bestahl und das Diebesgut an Arme verteilte. Ich habe ihn
als Kind bewundert. Als ich hörte, dass Hong Xiuquan sich ebenso
verhielt, wollte ich ihn kennenlernen. Und begreifen, warum er sich
für den Sohn eines fremden Gottes hält.«
Yazi
runzelte die Stirn. Ein Teil von ihr empfand diese Worte immer noch
als lasterhaft. Hong Xiuquan hielt sich für das, was er war.
»Er
hatte einen Traum, in dem Huang Shangdi und der erste himmlische Sohn
ihm erschienen, um ihm seine Bestimmung klarzumachen«, erklärte
sie. »Zunächst begriff er diesen Traum nicht. Als sein
Vater sich Sorgen um seinen Geisteszustand machte, hörte er auf,
von dem Traum zu sprechen. Doch dann las er ein paar Traktate, die
ein Missionar ihm vor Jahren gegeben hatte. Er begriff, dass der Gott
der Christen ihm erschienen war.«
Andrew
kicherte in sich hinein.
»Ich
kenne diese Geschichte. Er sah unseren europäischen Herrgott in
chinesischer Kleidung. Sowohl der himmlische Herr als auch Jesus
waren verheiratet und hatten Kinder. Echt chinesischer Familiensinn.«
Yazi
fühlte Ärger, der wie Nadeln stach.
»Warum
sollte Euer Gott sich nicht chinesisch kleiden, wenn er einem
Chinesen erscheint? Meinst du denn, er gehört nur euch allein?«
Andrew
strich ihr besänftigend das Haar aus der Stirn.
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