Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Palast lag bereits in Trümmern und Truppen
patrouillierten durch die Stadt. Den Einwohnern war es nicht
gestattet, ihre Häuser zu verlassen. Sie atmete erleichtert auf,
denn dadurch blieb Andrew in Sicherheit.
Sie
erhielten den Befehl, sich in Hong Xiuquans Palast zu versammeln. Der
himmlische König saß prächtig gekleidet in seinem
Thronsaal, doch wirkte sein Gesicht angespannt und dunkle Schatten
untermalten seine Augen. Vor ihm lagen der Nordkönig Wei
Changhui, der General Qin Rigang und alle anderen Anführer des
gestrigen Überfalls in Ketten. Bevor Yazi sich einen Reim darauf
machen konnte, überreichte Hong Xiuquan Pofu eine auf gelber
Seide verfasste Stellungnahme zu den Vorfällen der vergangenen
Nacht. Da Yazi in den letzten Jahren fleißig daran gearbeitet
hatte, mehr Schriftzeichen zu lernen, gehörte sie zu den
Auserwählten, die den Text öffentlich vortragen sollten.
Tausende
stummer, angsterfüllter, verkrampfter Gesichter starrten ihr
entgegen, denn das Ausgehverbot war aufgehoben worden und eine dicht
gedrängte Menge verstopfte alle Straßen um den
Königspalast. Sie hörte Gemurmel, das sich zu zornigen
Schreien steigerte. Mörder! Verräter! Verbündete der
Dämonen! Ein paar Steine flogen durch die Luft. Ihr Aufprall
gegen die Palastmauern vibrierte in Yazis Ohren. Sie verneigte sich
in der Hoffnung, so die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen.
Sollte es zu einem Sturm auf den Palast kommen, würde sie selbst
als eine der Ersten niedergetrampelt werden.
Mit
jener Kraft, die sie in ihrem Leben als Soldatin erworben hatte,
zwang sie sich, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Schriftzeichen zu
lenken. Kurz wünschte sie Chuntians Hilfe herbei, denn in dieser
Kunst war die Tochter ihr haushoch überlegen.
Yazi
las, dass Hong Xiuquan sehr empört über das Morden war,
dass er jedes Plündern verboten hatte und all diese Vorfälle
zutiefst bedauerte. Die Verantwortlichen waren allein Wei Changhui
und Qin Rigang. Sie sollten bestraft werden, so wie man einst, auf
dem Dornenberg in Guangxi, wo der Aufstand der Taiping seinen Anfang
genommen hatte, mit Verrätern umgegangen war: fünfhundert
Stockschläge. Alle Anhänger des ermordeten Ostkönigs
hatten das Recht, dabei Zeugen zu sein.
Die
empörten Schreie verstummten. Ein paar Gebetstexte wurden
gemurmelt, als die Palasttore sich einladend öffneten. Hong
Xiuquan hatte erst einmal gewonnen.
Yazi
ließ die beschriebene Seide sinken. All dies ergab keinen Sinn.
Warum strafte der himmlische König seine engsten Verbündeten
auf so grausame Weise? Weshalb nahmen sie es widerstandslos hin,
obwohl sie beide ihr eigenes Heer hatten? Doch es war nicht die
Aufgabe einer Soldatin, königliche Entscheidungen zu
hinterfragen. Yazi begab sich mit allen anderen Kriegern Hong
Xiuquans in den äußeren Palasthof, wo auch die zwei
Verurteilten hingezerrt wurden. Auf Pofus Befehl hin, gesellte sie
sich zu den Wachleuten, die allen Zuschauern ihre Waffen abnahmen,
wie es im königlichen Palast üblich war. Die Anhänger
des toten Ostkönigs wurden zu den zwei großen Hallen an
der Seite gewiesen, von wo aus sie die beste Sicht hatten.
Die
Strafe begann. Bambusrohre sausten auf die Rücken der
Verurteilten nieder, Blut spritze auf und befleckte den Erdboden. Die
erwarteten Schreie blieben aus, denn beide Männer waren
stählerne Krieger. Yazi erkannte vier hochgewachsene Gestalten
in der Nähe des geschlossenen Eingangstors. Andrews Haarschopf
war ein gelber Fleck in der Menschenmenge. Er lächelte ihr
krampfhaft zu. Sie neigte nur den Kopf, um ihn zur Kenntnis zu
nehmen. Lieber hätte sie die Lao Wai in ihrer Herberge gewusst.
Es entsprach nicht Andrews Naturell, grausame Strafen sehen zu
wollen. Aber er war neugierig.
Die
Bambusrohre fielen weiter und weiter. Rote Lachen hatten sich um die
knienden Verurteilten gebildet, denen die ersten Klagelaute
entwichen. Yazis Magen wurde zu einem schweren Stein, dessen Gewicht
es ihr erschwerte, sich gerade zu halten. Es waren noch nicht einmal
die ersten hundert Schläge vorbei. Irgendwann würden auch
diese zwei stolzen Männer laut schreien und um Gnade flehen, was
Hong Xiuquan ihnen unmöglich gewähren konnte. Es musste
weitergehen, bis sie nur noch als rote Fleischklumpen dalagen. Sie
hatte bereits einige solcher Hinrichtungen erlebt, doch wollte sie
nicht, dass Andrew mitbekam, wie man im Reich der Taiping öffentlich
Menschen zu Tode
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