Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
chinesischen
Kunstwerke standen noch an jener Stelle, wo sie Viktoria gezeigt
worden waren. Mit einem Mal schienen all diese kostbaren Dinge, mit
denen der Raum gefüllt war, übermächtig und erdrückend
im Vergleich zu der kleinen Gestalt ihres Vaters.
»Du
wolltest mit mir reden, Papa«, begann sie und staunte, wie
belegt ihre Stimme klang. Ihr Vater fuhr zusammen, dann wandte er
sich um. Wieder fiel ihr der erschöpfte Ausdruck seines Gesichts
auf. Sie hatte ihn jünger und beschwingter in Erinnerung.
»Setz
dich, mein Kind.«
Viktoria
gehorchte. Eine Weile blieb es still.
»Möchtest
du einen Tee?«, fragte ihr Vater leise. Sie schüttelte
ungeduldig den Kopf. Ihr Vater klingelte trotzdem nach einem
Bediensteten und ließ sich Sherry einschenken. Auch Viktoria
erhielt ein Glas, an dem sie zögernd nippte.
»Es
sind … es sind unerwartete Dinge geschehen. Die Fracht, die
ich aus China nach Deutschland bringen lassen wollte, wurde in der
Nähe Shanghais von Piraten gekapert. Wie ich schon sagte, es ist
ein sehr wildes Land, sobald man die internationalen Häfen
verlässt.«
Viktoria
dachte an Geschichten über gesetzlose Räuber, die sich in
schöne Damen verliebten. China klang wirklich aufregend.
»Aber
die Fracht war doch versichert«, meinte sie lächelnd. »Das
ist doch alles keine große Tragödie.«
Wieder
spürte sie den Blick der müden, grauen Augen.
»Ich
fürchte, die Fracht war nicht versichert. Es ist ein schwerer
Verlust.«
Eine
unsichtbare Hand drückte Viktorias Kehle zusammen. Ihr Vater
hatte niemals so niedergeschlagen geklungen, doch sie zwang sich
trotzig zu einer aufrechten Haltung. So schlimm konnte das alles
nicht sein.
»Diesen
Verlust stecken wir schon weg. Wir haben genug finanzielle Reserven.
Lass den Kopf nicht hängen, Papa, das wird schon wieder. Rede
mit Herrn Behm.«
Sie
wollte nicht fragen, warum die Fracht nicht versichert gewesen war,
denn es hätte wie eine Kritik an der allgemein bekannten
Vergesslichkeit ihres Vaters geklungen. Aber gewöhnlich sorgte
Herr Behm dafür, dass die Dinge ordnungsgemäß
abliefen.
»Ich
habe bereits mit Herrn Behm gesprochen«, sagte ihr Vater zu dem
Teppich unter seinen Füßen. »Die Lage ist sehr
ernst. Vicki, ich fürchte, wir sind … wir sind sozusagen
ruiniert.«
Diese
Worte jagten einen kalten Schauer über Viktorias Rücken.
Dann sagte sie sich, dass ihr Vater ein wenig zur Theatralik neigte.
»Jetzt
sei nicht albern, wir sind reich«, rief sie mit einem lauten
Lachen. »Vielleicht ein bisschen weniger reich als zuvor, aber
was macht das schon?«
Ihr
Vater wandte ihr langsam den Kopf zu. Tiefe Schatten lagen unter
seinen Augen, die gerötet waren, als habe er geweint oder zu
viel Sherry getrunken oder beides.
»Vicki,
wirklich reich sind wir schon lange nicht mehr. Wir haben über
unsere Verhältnisse gelebt und Schulden gemacht, um unseren
Lebensstil aufrecht halten zu können. Doch die Krise in den
letzten Jahren hat auch unsere Reederei schwer getroffen. Ich hatte
unser letztes Kapital in dieses Chinageschäft gesteckt und auf
neue Möglichkeiten gehofft, da die Wirtschaft sich zu erholen
schien. Jetzt ist es damit vorbei.«
Er
sackte zusammen, als sei mit einem Schlag die letzte Kraft aus seinem
Körper gewichen. Ohne weiter nachzudenken, sprang Viktoria auf
und legte ihren Arm um seine Schultern, um ihn in eine etwas
aufrechtere Position zu drängen.
»Na
wenn schon«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Wir …
wir verkaufen diese riesige Villa und nehmen uns ein Haus am Hafen.
So hat doch dein Urgroßvater angefangen. Zwei oder drei Schiffe
bleiben uns sicher noch. Wir beginnen von vorn. Ich werde deine
Bücher führen, wenn du dir keine Angestellten mehr leisten
kannst. Ein paar Bedienstete für Mama, mehr brauchen wir doch
nicht.«
Erst
beim Reden begann sie den Sinn ihrer Worte wirklich zu begreifen.
Ihre Kehle wurde eng, denn sie meinte, in eine fremde Welt gedrängt
zu werden, die voller Gefahren und Widrigkeiten sein musste. Sie war
niemals im Leben arm gewesen und kannte auch kaum Leute, die es
waren. Was empfand Magda dabei, den größten Teil eines
jeden Tages nach den Bedürfnissen ihrer Arbeitgeber ausrichten
zu müssen? Sie schüttelte diese unbehaglichen Überlegungen
ab, denn sie durfte ihren Vater nun nicht im Stich lassen,
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