Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
würde er wütend werden.
»Das
Urteil besser überlassen mir«, meinte er jedoch nur knapp
und wandte sich wieder ab. Viktoria verstand die unausgesprochene
Aufforderung, dass sie sich entfernen sollte, aber diesmal schluckte
sie ihren eigenen Zorn hinunter. Sie wusste aus eigener Erfahrung,
wie unleidlich der Schmerz einen Menschen machen konnte.
Sie
schlang die Arme um die Knie und richtete ihren Blick auf die
schattigen Umrisse des Baumes. Wieder fühlte sie sich an
chinesische Tuschezeichnungen erinnert. In Europa hatte sie Natur
niemals als derart filigran und präzise wie eine Schraffur
empfunden. Hatte die Landschaft dieses Landes solche Malerei
inspiriert oder war ihre Wahrnehmung der Umgebung bereits von
asiatischer Kunst geprägt? Sie konnte es nicht sagen.
»Vor
ungefähr drei Jahren verlor ich meinen Vater«, begann sie
unaufgefordert zu reden. »Zwar wuchs ich mit beiden Eltern auf,
aber meine Mutter mochte mich nie besonders, also war mein Vater der
einzige Mensch, den ich hatte.«
Jinzis
Kopf drehte sich leicht in ihre Richtung. Zwar vermied er es
weiterhin, sie anzusehen, doch machte er nun den Eindruck eines
aufmerksamen Zuhörers.
»Dann
starb er«, fuhr sie fort. »Er … er erschoss sich,
weil er unser Vermögen verschleudert hatte, und ich war
plötzlich der einsamste Mensch auf der Welt.«
Zu
ihrem Entsetzen würgten Tränen in ihrer Kehle. Sie musste
einige Atemzüge tun, bis sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle
hatte.
»Ich
habe gelernt, ohne ihn zu leben«, fuhr sie entschlossen fort.
»Ich weiß, er hätte nicht gewollt, dass ich den Rest
meiner Zeit auf dieser Welt damit zubringe, um ihn zu trauern. Ich
versuche, alles zu nutzen, was er mich gelehrt hat, um mich irgendwie
durchzuschlagen. Das wäre sein Wunsch gewesen.«
Sie
fühlte sich besser nach diesen Worten, obwohl sie nicht einmal
wusste, ob sie der Wahrheit entsprachen. Ihr Vater hatte sich eine
Kugel durch den Kopf gejagt, um den Folgen seines Verhaltens zu
entkommen. Geldsorgen, schäbige Herbergen, Abhängigkeit von
Anderen, die mehr Geld und Macht besaßen als man selbst, all
das war ihm fremd gewesen und er hatte nicht den Mut gehabt, sich
diesen neuen Erfahrungen zu stellen. Yazi, so wurde ihr klar, hätte
ihr Kind niemals so einfach im Stich gelassen. Sie überlegte
gerade, ob sie dies Jinzi mitteilen sollte, als ein merkwürdiges
Geräusch sie aus ihren Gedanken riss. Es klang wie das Reißen
eines rauen Tuchs. Jinzi hatte das Gesicht wieder in den Händen
vergraben. Sie sah seinen Rücken beben, hob zaghaft die Hand und
ließ sie wieder sinken.
Weinende
Frauen zu trösten war eine Selbstverständlichkeit, ein
geradezu natürlicher Drang. Doch ein weinender Mann glich einer
Naturkatastrophe, auf die sie nicht vorbereitet war. Ihre Beine
zuckten in dem Drang, sie weit fortzutragen, aber wenn sie jetzt
einfach weglief, dann wäre es überaus kaltherzig. Nochmals
bewegte sich ihre Hand und fand nach einigem Zögern Jinzis
Rücken. Er fuhr zusammen, als habe er einen Schlag erhalten, und
fegte Viktorias Arm unwirsch zur Seite.
»Dann
fahr eben zur Hölle!«, murmelte sie leise auf Deutsch und
sprang auf. Es war wirklich besser zu verschwinden. Morgen wäre
die Erinnerung an diese Begegnung ihnen beiden peinlich. Sie hatte
gerade den ersten Schritt getan, als sie plötzlich
zurückgerissen wurde. Jinzis Arme umschlangen ihre Taille wie
Fesseln, drückten sie wieder auf den Felsen und sein Kopf bohrte
sich in ihren Schoß. Er hatte Dewei manchmal so bei ihr
schlafen sehen und dabei das Gesicht verzogen. Jetzt schluchzte er,
während Viktoria ratlos seinen Kopf streichelte.
»Du
hast wunderschönes Haar«, murmelte sie in ihrer
Muttersprache. »Aber wenn du mich noch länger so drückst,
habe ich morgen ein paar blaue Flecken.«
Obwohl
er sie nicht verstehen konnte, ließ die Gewalt seiner Umarmung
langsam nach, während sie verzweifelt nach einer einigermaßen
bequemen Haltung suchte. Glücklicherweise hatte sie eine Decke
um ihre Schultern geschlagen. Für Mücken war es seit Wochen
schon zu kalt. Alles nicht so schlimm, dachte sie, und streichelte
weiter Jinzis Kopf. Sein Schluchzen verstummte allmählich, er
richtete sich auf und wandte ihr wieder den Rücken zu.
»Es
tut mir leid«, murmelte er. Sie sah die Bewegung seiner Arme
und vermutete, dass er sich gerade die Augen trocken rieb.
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