Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
»Das
war doch nicht schlimm. Jeder Mensch braucht manchmal Trost«,
entgegnete sie. »Aber jetzt sollten wir schlafen, sonst
überstehen wir die morgige Reise nicht. In Zukunft würde
ich lieber in Herbergen übernachten, denn es wird kalt, und
außerdem ist es dort sicherer.«
Entschlossen
stand sie auf. Jinzi hatte sich ihr wieder zugewandt und musterte sie
mit dem gewohnten, leicht missbilligenden Blick.
»Wie
die Lady wünscht. Vielleicht hätte sie den Dampfer nehmen
sollen. Ohne eine Lao Wai, die überall ihr goldenes Haar zur
Schau stellt, wären wir wahrscheinlich nicht überfallen
worden.«
Viktoria
zog die Decke enger um ihre Schultern, doch trotzdem fraß Kälte
sich in all ihre Knochen. Gab er ihr nun die Schuld an Yazis Tod?
»Ich
nehme einen Dampfer, sobald wir am gelben Fluss sind«,
erwiderte sie nur und lief fort.
******
Die
Reise verlief ein paar Tage ohne besondere Ereignisse und vor allem
ohne längere Gespräche. Dewei gab seine Versuche, eine
Unterhaltung aufkommen zu lassen, bald auf. Er redete abwechselnd mit
Jinzi und Viktoria, versuchte unauffällig zu vermitteln und
fügte sich schließlich in das allgemeine Schweigen. Die
Herbergen, so schäbig und verschmutzt sie auch waren, sorgten
für ein wenig Aufmunterung, da die Gegenwart anderer Menschen
von dem Graben zwischen Viktoria und Jinzi ablenkte. Viktoria verbarg
ihr Haar nun geflissentlich, hielt überall den Blick gesenkt und
überließ das Reden ihren chinesischen Begleitern.
Tatsächlich wurde sie weniger angestarrt als bisher.
Sie
erreichten den Huang He, als bereits der erste Nachtfrost aufkam.
Viktoria hatte sich in Marjories Felljacke gehüllt. Am Ufer des
Flusses stießen sie auf ein Zollhaus, das vorbeiziehende
Schiffe kontrollierte. Daneben befand sich eine kleine Herberge.
Viktoria drängte auf einen längeren Aufenthalt an diesem
Ort, denn früher oder später würde sie sicher eine
Mitfahrgelegenheit finden und irgendwie nach Shanghai gelangen. Die
Sorge, wie ihr zukünftiges Leben aussehen sollte, rückte
nun langsam wieder in den Vordergrund, denn sie wusste nicht, wie sie
einem stets abweisenden Jinzi bei der Suche nach seinem Vater helfen
sollte. Mit den Huntingdons würde sie reden, um Yazis Willen.
Dann wäre sie wieder allein mit Dewei.
Am
dritten Tag stellten die Beamten des Zollhauses ihr ein paar Händler
vor, die mit ihrer Dschunke nach Shanghai unterwegs waren. Obwohl
Viktoria lieber wieder ein paar weniger fremde, blasse Gesichter mit
langen Nasen um sich gesehen hätte, nahm sie das Angebot an,
denn sie vermochte nicht länger zu warten. Als sie in ihrer
Schmuckschatulle kramte, um die Mitnahme von drei Leuten bezahlen zu
können, spürte sie Jinzi wieder einmal als Schatten in
ihrem Rücken.
»Ich
kann weiterfahren mit Karren. Bis Shanghai«, schlug er vor.
»Wie
Sie wünschen.« Viktoria sah ihn nicht an.
»Aber
diese Händler sind merkwürdig. Keine Ware auf Dschunke.
Vielleicht besser noch warten auf englisches Schiff«, redete
Jinzi dennoch weiter.
»Nun«,
Viktoria klappte die Schatulle zu. Von dem Granatcollier würde
sie sich wohl trennen müssen. »Wenn diese Händler
noch keine Ware aufgeladen haben, dann haben Dewei und ich mehr Platz
auf dem Schiff. Seriös müssen sie sein. Sie sind den
Beamten des Zollhauses bekannt, also müssen sie hier schon öfter
entlanggefahren sein.«
Jinzi
holte Luft, als wolle er noch etwas sagen, aber sie winkte ab.
Vielleicht würde die Schwermut endlich von ihr abfallen, wenn
sie diesen missgelaunten Halbchinesen nicht mehr ständig um sich
hatte.
Viktoria
wurde in einer kleinen Hütte auf dem Deck der Dschunke
untergebracht, wo ein schmutziges Bett, ein Tisch und eine Bank
standen. Drei Mahlzeiten am Tag für Dewei und sie waren
ebenfalls im Preis inbegriffen. Der Anführer der Händlertruppe,
ein kleiner, kugelrunder Mann mit Zahnlücken, der zu Viktorias
Missfallen ständig spuckte, war recht angetan von dem
Granatcollier gewesen und hatte Viktoria angeboten, ihr noch weitere
Schmuckstücke abzukaufen, was sie jedoch abgelehnt hatte. Die
Kommunikation mit den Männern erwies sich als schwierig, denn
sie sprachen einen Dialekt, den selbst Dewei kaum verstehen konnte.
Viktoria beschloss, dass es nicht wichtig war. Sie brauchte mit
diesen Händlern nicht zu reden, wollte nur von ihnen
schnellstmöglich nach Shanghai gebracht
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