Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
gehen?«, fragte sie Dewei, obwohl ihr
klar war, dass er es ebenso wenig wissen konnte wie sie selbst. Nach
Shanghai würde sie nun keinesfalls mehr gebracht werden, denn
dort hätte sie sogleich Anklage erheben können. Bestenfalls
würde sie allein und mittellos am Ufer eines Flusses
zurückgelassen werden, der sich bei Piraten angeblich großer
Beliebtheit erfreute. Aber dieses Szenario schien allemal besser denn
andere Möglichkeiten, die ihr Verstand unerbittlich aufzuzählen
begann. Sie konnte auch als Wasserleiche enden. Dann gab es noch die
Gruselgeschichten über chinesische Sklavenhändler. Dewei,
dem wohl ähnliche Dinge durch den Kopf gingen, schmiegte sich an
ihre Seite.
»Vielleicht
werden sie Lösegeld für dich verlangen«, flüsterte
er. »Für Lao Wai bekommt man sicher viel.«
Er
redete nicht weiter, aber die Angst in seinen Augen verriet, was er
dachte. Für einen gewöhnlichen chinesischen Jungen würde
kein Konsulat der Welt auch nur einen Tael bezahlen. Viktoria strich
ihm über den Kopf und versicherte nochmals, dass sie ihn niemals
im Stich lassen würde. Er lächelte sie zaghaft an, aber
schwieg. Beide wussten, dass es diesen Männern nicht auf die
Wünsche ihrer exotischen Gefangenen ankommen würde.
Das
Schiff schaukelte, doch bewegte es sich nicht vorwärts. Viktoria
begann schließlich, ziellos von einer Wand zur nächsten zu
laufen, da ihr Körper keinen weiteren Stillstand ertrug. Kurz
öffnete sich die Tür und eine Hand schob hastig eine
Schüssel Reis hinein. Viktoria holte Luft. Sie musste versuchen,
ruhig mit diesen Männern zu reden, ihnen einen freiwilligen
Verzicht auf ihren Besitz anbieten, wenn man sie nur irgendwo in der
Nähe von Shanghai absetzte. Eine tote Lao Wai brachte Ärger,
das hatte bereits Jinzi erkannt. Doch bevor sie ein paar chinesische
Worte hervorgebracht hatte, fiel die Tür wieder zu. Viktoria
rannte los und begann schreiend gegen das Holz zu hämmern, bis
ihre Fingerknöchel wund gerieben waren. Dewei strich ihr
schließlich sanft über den Rücken.
»Wir
essen jetzt besser, bevor es kalt wird«, schlug er vor.
Viktoria gehorchte und schlang den Reis hastig hinunter. Obwohl sie
keinerlei Hungergefühl verspürt hatte, wurde ihr mit vollem
Magen etwas wohler. Gemeinsam mit Dewei streckte sie sich auf dem
schmutzigen Bett aus und versuchte, in den Schlaf zu fliehen.
»Es
dämmert bereits«, weckte Deweis Murmeln sie schließlich
auf. »Und es ist sehr still. Ich glaube, sie sind losgezogen,
um deinen Schmuck zu verkaufen.«
Viktoria
wehrte sich vergeblich gegen den Schmerz, den diese Vorstellung in
ihr auslöste. Kleine Teile ihres Herzens wurden mit Zangen
herausgerissen.
»Sobald
es dunkel ist, versuche ich aus dem Fenster zu kriechen. Ich kann
mich schon irgendwie durchzwängen«, redete Dewei weiter.
»Vielleicht kann ich dann auch unauffällig die Tür
öffnen und wir schaffen es bis zum Ufer. Dann laufen wir nach
Binzhou. Dort gibt es vielleicht irgendeine Mission, die dir hilft.«
Viktoria
richtete sich auf. Dieser Plan klang wie der Tanz auf einem dünnen
Seil, aber ein solcher Versuch war allemal besser, als tatenlos in
den Abgrund zu fallen. Als sie Dewei durch die Fensteröffnung in
eine unbekannte Dunkelheit entschwinden sah, warf sie ihre restlichen
Habseligkeiten wieder in den malträtierten Koffer. Das Schloss
funktionierte noch, was ihr ein gutes Zeichen des Schicksals schien.
Irgendwie würden sie entkommen.
Die
Tür ging zaghaft auf.
»Vi
Ki!«
Viktoria
lief los, legte ihren Arm um Deweis schmale Schultern und drückte
ihn für einen kurzen Moment dankbar an sich. Dann betraten sie
das Deck des Schiffs, das weiter auf den Wellen schaukelte. Viktoria
warf einen sehnsüchtigen Blick auf jene Schattierungen von Grau,
die sich in fast greifbarer Ferne abzeichneten und wohl das
nächtliche Ufer sein mussten. Sobald sie in irgendwelchen
Büschen verschwunden waren, hatten sie das Schlimmste
überstanden, doch vorher würden sie wohl ins Wasser
springen und ein Stück schwimmen müssen. Zum Glück
trug sie noch die einfache Kleidung chinesischer Bäuerinnen und
musste nicht befürchten, von zahlreichen Stoffbahnen in die
Tiefe gezogen zu werden. Entschlossen sah sie auf die dunkle Masse
unterhalb des Schiffes hinab. Ihr Atem stockte. Das Gewässer
schien so finster und unergründlich wie ein Höllenschlund.
Es wäre sicher unerträglich
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