Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
kalt, sobald sie darin
eintauchte, denn die Nächte waren frostig geworden.
»Kannst
du schwimmen?«, fragte Dewei. Viktorias Unbehagen nahm zu.
Während der Italien-Reisen mit ihrem Vater war sie manchmal
heimlich mit Bauernkindern ins Meer gelaufen, und ein aufmerksamer
Junge hatte ihr ein paar Schwimmzüge beigebracht, doch lag das
sehr viele Jahre zurück. Warum hatte sogar ihr liebender Vater
keine Notwendigkeit gesehen, ihr ein paar Fähigkeiten zu
vermitteln, die in Notlagen überlebenswichtig waren? Doch dies
war nicht der Moment für lange Grübeleien.
»Ich
kann mich über Wasser halten«, versicherte Viktoria.
»Gut.
Ich zeige dir dann, wie du vorwärts kommst«, sagte Dewei.
»Den Koffer nehme besser ich. Wirf ihn hinterher, sobald ich
gesprungen bin. Dann musst du selbst folgen.«
Viktoria
überließ sich erleichtert seiner Führung, sah ihn
flink wie ein Äffchen über die Reling klettern und presste
die Hand vor den Mund, um einen Angstschrei zu unterdrücken.
Gleich würde er in die unbekannten Tiefen fallen. Ein Geräusch
in ihrem Rücken ließ sie herumfahren. Nun schrie sie
tatsächlich auf, denn vor ihr stand ein Mann mit einem Dolch in
der Hand. Sein Gesicht kam ihr vage vertraut vor, doch hatte sie
schon so viele kleine Chinesen mit eingefallenen Gesichtszügen
gesehen. Die Augen blitzten zornig im schwachen Mondlicht. Viktoria
schrie noch gellender, als er Dewei am Kragen packte und wieder auf
das Deck zog. Das Schiff war nicht leer gewesen, und sie hatten durch
ihr Gerede den schlafenden Wächter geweckt.
Der
Mann begann auf Dewei einzuprügeln, warf ihn brüllend zu
Boden und hob den Dolch. Für eine Sekunde war Viktoria in
fassungsloser Starre gefangen, doch als sie sah, wie die Klinge auf
Deweis schmächtigen Körper niedersauste, geriet sie auf
einmal in Bewegung.
Sie
brüllte und trat und biss. Eine rasende Wut hatte von ihr Besitz
ergriffen, verlieh ihr Kräfte, die sie niemals in sich vermutet
hätte. Ihre Fingernägel kratzten Blut aus den Wangen des
Wachmanns, der ein paar Schritte rückwärts taumelte. Der
Dolch entglitt seiner Hand, aber Viktorias Übermacht war von
kurzer Dauer. Der Mann mochte einen Kopf kleiner als sie sein und
hatte mit ihrem Angriff nicht gerechnet, doch sobald er sich wieder
gefangen hatte, stieß er sie von sich und hob entschlossen die
Hand zum Gegenschlag. Viktorias Knie wurden schwach. Das war kein
ängstlicher Bauer, sondern ein Mann, der mit Waffen umzugehen
verstand und wahrscheinlich auch Übung im Töten hatte. Die
Welt stand still, sie hörte ihren Herzschlag nicht mehr und die
Fäuste des Mannes bewegten sich erstaunlich langsam in ihre
Richtung. Weglaufen, hallte es in ihrem Kopf, doch schienen ihre
Beine zu keiner Regung fähig. Würde sie jetzt tatsächlich
sterben?
Eine
plötzliche Regung in der Finsternis riss Viktoria aus ihrer
Angststarre in die Wirklichkeit und ermöglichte es ihr, ein paar
Schritte rückwärts zu tun. Dewei, der sich wieder
aufgerappelt hatte, legte schützend einen Arm um ihre Taille.
Gemeinsam sahen sie zu, wie eine scheinbar aus dem Nichts
aufgetauchte Gestalt den Wächter mit ein paar gezielten Hieben
zu Boden schlug und dann den Dolch aufhob, um ihn kurz gegen die
Kehle seines Besitzers zu drücken. Viktoria unterdrückte
ein Wimmern, denn sie hatte noch niemals gesehen, wie ein Mensch
getötet wurde. Aber der Dolch wurde im letzten Moment
zurückgezogen, stattdessen traf nur ein weiterer Tritt die
Leiste des Mannes, der stöhnend fortkroch.
»Wir
müssen ihn fesseln«, sagte die Gestalt auf Englisch.
»Sonst läuft er gleich nach Binzhou, um seinen Herrn zu
alarmieren.«
Viktoria
war nicht wirklich überrascht, als sie Jinzis Gesicht erkannte,
denn die Größe und die Geschmeidigkeit der Bewegungen des
unbekannten Retters hatten bereits Erinnerungen in ihr geweckt. Sie
war aber noch nie zuvor so froh gewesen, Yazis aufbrausenden,
unverschämten Sohn vor sich zu sehen. Ohne weiter zu überlegen,
lief sie los und schlang ihre Arme um seinen Hals. Als ihr bewusst
wurde, wie albern sie sich benahm, staunte sie nur, nicht
fortgestoßen zu werden. Jinzi erwiderte ihre Umarmung sogar für
einen kurzen Augenblick. Sie spürte kalte Nässe. Er musste
durchs Wasser geschwommen sein, um dann irgendwie auf die Dschunke zu
klettern. Ein leichtes Zittern ließ Viktoria erahnen, dass er
wohl fror. Sie wollte ihre Umarmung verstärken, wurde
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