Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
hierzu einen ungewöhnlichen Kontrast.
Dewei
schob die Kinder zur Seite, damit er und Viktoria etwas Platz auf
einer Bank bekamen. Drei Hausdiener kamen aus der Küche herein
und zwängten sich ebenfalls unter die Versammelten. Viktoria
überlegte, ob es wirklich ein Privileg war, hier essen zu
dürfen, oder ob sie nun einfach zum Personal gehörte. Doch
dufteten die Schüsseln so köstlich, dass sie diese Bedenken
sogleich vergaß. Die Hotelgäste, denen mittelprächtige
Imitationen englischer Gerichte serviert wurden, waren eigentlich zu
bedauern.
Sie
verzehrte Suppe, Nudeln und Schweinefleisch mit Ingwer. Das Gebrüll
schwoll während der Mahlzeit manchmal ab, hörte aber
niemals gänzlich auf. Mrs. McGregor hieß Meigui, Rose, so
wie Viktorias Feindin im Haus von Lao Tengfei. Ihr Ehemann schien die
Bedeutung des Namens zu kennen, denn er nannte sie Rosie. Er sprach
seine Familie stets auf Englisch an und erhielt meist Antworten in
dieser Sprache, obwohl die Kinder untereinander im lokalen Dialekt
plauderten. Erst als er versehentlich eine Schüssel umstieß,
zischte seine Frau ein paar chinesische Worte in seine Richtung, die
er offenbar recht gut verstand, denn er erinnerte sogleich daran,
dass die Schüssel mitnichten ein Erbstück sei, da sie von
einem Straßenhändler stammte und außerdem bereits
einen Sprung gehabt hatte. Ein zotteliger Haushund verzehrte das
verschüttete Essen und auch alle anderen, in den Schüsseln
verbliebenen Reste. Viktoria wusste, dass es ihr noch vor zwei Jahren
davor gegraut hätte, in einem derart lauten, chaotischen Umfeld
Mahlzeiten einnehmen zu müssen. Nun war sie einfach erleichtert,
denn die McGregors hatten sie für ein paar Stunden davor
bewahrt, Schuldgefühle, neue Hoffnung und Sorge wie schwere
Gewichte in ihrem Kopf hin und her zu wälzen.
Zwei
Tage später klopften die drei Töchter des Hotelbesitzers
zaghaft an Viktorias Tür und fragten, ob sie ihnen beibringen
könnte, ein paar Melodien auf dem Klavier zu spielen. Die
Mädchen waren alle nach Blumen benannt: Daisy, Lily und Violet.
Ihre Mutter schien die chinesische Übersetzung zu benutzen, denn
sie hatte chinesische Namen für ihre Töchter. Viktoria
fragte sich, wie die McGregors es mit den Söhnen hielten, wollte
aber nicht allzu neugierig scheinen.
Zu
dem Klavierunterricht kamen nach ein paar Tagen noch Stunden in
Französisch und Deutsch, denn die Mädchen erwiesen sich als
wissensdurstig. Ihre Mutter schlich manchmal unauffällig herein,
um zuzuhören. Ein zufriedener Ausdruck lag um ihre Mundwinkel,
während sie die Arme in die Hüften stemmte und zustimmend
nickte. Dewei steigerte ihr Wohlbefinden, indem er darauf hinwies,
dass Viktoria bereits die Töchter eines angesehenen Mandarins in
Beijing unterrichtet hätte. Schließlich wurden auch die
weniger begeisterten Söhne zum Unterricht befohlen, der mit
Deweis Beistand sogar recht gut gelang. Viktoria war zufrieden, nicht
mehr auf die Gnade des Konsulats angewiesen zu sein. Sie hatte auf
absehbare Zeit ein Dach über dem Kopf gefunden und konnte sich
auf regelmäßige Nahrung verlassen. Sie erwog, in ein paar
Wochen taktvoll anzudeuten, dass Gouvernanten für gewöhnlich
auch ein Gehalt bezogen, doch wusste sie nicht, wie viel Geld den
McGregors zur Verfügung stand.
In
ihrem kleinen Zimmer hatte sie sich inzwischen häuslich
eingerichtet. Es beinhaltete zwei chinesische Bambusstühle,
einen europäischen Schreibtisch, einen Schrank aus schwerer
Eiche, der leicht wackelte und dessen Tür sich nicht schließen
ließ, sowie ein Kastenbett, wie sie es aus Lao Tengfeis Haus
kannte. Allerdings waren die Papierwände rissig und die Bemalung
stark verblasst. Die McGregors mussten nach dem Erwerb des
Hotelgebäudes alle alten Möbel eingesammelt haben, die sich
irgendwo günstig auftreiben ließen, um die Zimmer
einzurichten. Viktoria fand Gefallen an diesem kuriosen Sammelsurium.
Zum ersten Mal, seit sie ihr Zuhause verloren hatte, begann sie an
einem Ort jene behagliche Vertrautheit zu empfinden, die ein Heim
ausmacht. In einigen Momenten, da es ihr gelang, nicht an Jinzis
Schicksal zu denken, war sie sogar recht beschwingter Laune. Trotzdem
konnte sie ein Gefühl von Leere niemals ganz abschütteln,
als sei plötzlich etwas Wichtiges aus ihrem Leben verschwunden
und hätte ein Loch in ihrem Inneren hinterlassen.
Bei
der Heimkehr von einem kurzen Spaziergang durch die Foochow Road
entdeckte sie Ian McGregor
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