Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
mit seiner Rosie auf einer Bank im kleinen
Vorgarten des Hotels, leise plaudernd, mit zusammengesteckten Köpfen
und Fingern, die sich in ihrem Rücken ineinander verflochten.
Der Schotte war ein breiter Baumstamm, an den seine Frau sich wie ein
zartes Pflänzchen schmiegte, sodass sie zu einem idyllischen
Naturbild verschmolzen. Da erst begriff sie es endgültig. Sie
sehnte sich nach dieser Nähe und Vertrautheit mit einem anderen
Menschen in ihrem Leben. Dewei konnte diese Rolle nicht ganz
erfüllen, denn er war ein Kind, für das sie Verantwortung
trug. Seltsamerweise tauchte Jinzis Gesicht nun in aller Deutlichkeit
in ihrer Erinnerung auf. In jener Nacht in der Höhle war er ihr
näher gewesen als kaum ein Mensch zuvor.
******
Zwei
Tage später erhielt sie ein Schreiben von Max von Brandt, das
sie mit zitternden Händen aufriss. Ihre Augen rasten über
die Zeilen, versuchten deren Inhalt in Sekundenschnelle aufzusaugen.
Zunächst tat ihr Herz einen freudigen Sprung. Der Gesandte
erklärte knapp, dass er dem Konsul zu einer Freilassung des
gefangenen Chinesen geraten hatte, da jedes andere Vorgehen für
unnötige Unruhen sorgen könnte, sobald der Fall sich
herumsprach. Der Konsul hatte zunächst sehr offen für diese
Argumentation gewirkt, zumal er den jungen Andrews mit seinen steten
Klagen für einen recht anstrengenden Zeitgenossen hielt. Dann
aber folgten vier rasch dahingekritzelte Zeilen, die einen Abgrund
unter ihren Füßen aufrissen. Da der Konsul Hinweise
erhalten hatte, dass dieser chinesische Diener zu Aufwieglern gegen
das chinesische Kaiserreich gehörte, hatte er schließlich
beschlossen, ihn der chinesischen Gerichtsbarkeit zu übergeben.
So konnten sich weder die chinesischen Beamten noch der nörgelnde
Joseph Andrews gekränkt fühlen. Ein kluger Schachzug,
diplomatisch gesehen.
Viktoria
sah, wie das Papier ihr aus den Händen glitt und langsam zu
Boden segelte.
»Ist
etwas nicht in Ordnung?«, fragte Dewei besorgt im Hintergrund.
»Was
für Gründe könnte es geben, dass Jinzi als Aufwiegler
gegen eure … Kaiserin, oder wer auch immer jetzt regiert,
gelten könnte?«, flüsterte Viktoria verwirrt.
Dewei
warf einen Blick auf das zu Boden gefallene Papier.
»Ist
er in einem chinesischen Gefängnis?«, fragte er nur.
Viktoria nickte. Sie sah seine Schultern erschlaffen.
»Das
lange Haar«, sagte er nach einer Weile des Überlegens. »Es
war ein Zeichen der Taiping. Die Mandschu wollen kahl rasierte Köpfe
mit Zöpfen bei Männern.«
Viktoria
unterdrückte ein hysterisches Lachen.
»Man
kann einen Menschen doch nicht nur wegen seiner Frisur verhaften. Ich
habe in Shanghai andere Männer mit langen Haaren gesehen!«
Dewei
scharrte mit dem Fuß auf dem Boden. Er selbst hatte inzwischen
kurzes Haar wie ein europäischer Junge, da sie es ihm regelmäßig
schnitt.
»Das
waren Japaner, die du gesehen hast«, erklärte er. »Oder
irgendwelche anderen Völker. Aber du hast Recht, es wird nicht
mehr so sehr darauf geachtet, vor allem hier in Shanghai nicht. Jinzi
hat sein Haar auch fast immer versteckt. Es gibt sicher noch einen
anderen Grund.«
Er
trat ein paar Schritte auf sie zu.
»Damals
bei dieser englischen Familie hast du mir ein Papier mit dem Siegel
der Taiping gezeigt. Was ist aus ihm geworden?«
Viktoria
schlug die Hände vors Gesicht. Der Schwindel löste ein
Gefühl von Übelkeit aus.
Dieses
Papier hatte sie nach Peking mitgenommen, obwohl Nathan Sassoon sie
davor gewarnt hatte, mit einem solchen Dokument die internationale
Siedlung zu verlassen. Der Ring und das halbe Liebesgedicht, Andrew
Huntingdons andere Hinterlassenschaften, ruhten nun in Yazis Grab.
Aber das Siegel der Taiping war in ihrem Koffer geblieben. Sie hatte
ihn auf dem Schiff von Joseph Andrews ausgepackt, um seinen Inhalt
trocknen zu lassen. Sie erinnerte sich an ihre Kleider und Bücher.
Was war mit diesem Papier geschehen?
Sie
rannte zu dem Koffer, riss ihn auf und vergrub ihre Hände in den
Seitentaschen. Mit einem Zischen riss das Futter unter ihren
ungeduldigen Griff.
Aber
sie fand das Papier nicht. Es musste unbemerkt auf dem Schiff
zurückgeblieben sein.
6. Kapitel
»Ein
Stück Papier, das dieser Joseph Andrews sicher nicht entziffern
kann. Wirklich, Fräulein Virchow, Sie machen sich unnötige
Vorwürfe. In China reicht ein unpassender
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