Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Geste, die keiner Worte bedurfte. Ein Angebot. Eine
verzweifelte Bitte. Zögernd hob sie ihren Blick zu dem
selbstsicheren, breiten Gesicht des Gesandten. Es schien für
einen Moment nur versteinert.
»Fräulein
Virchow«, meinte er dann mit einer Stimme, in der eisige Kälte
klirrte. »Ich bin ein Gesandter der deutschen Nation und kein
kleiner Gauner, der sich bestechen lässt.«
Viktoria
fuhr zurück, als habe sie eine Ohrfeige erhalten. Ihr wurde
leicht übel. Sie wollte sich Augen und Ohren zuhalten, um nicht
mehr zu wissen, wo sie war. Sie wollte aufstehen und hinausrennen.
Doch sie blieb nur hilflos sitzen, da jede Energie aus ihrem Körper
gewichen war. In ein paar Wochen würde Jinzi auf ein Schiff
geschleppt werden, das ihn seiner Heimat entriss und in ein Leben
zwang, das er nicht wollte.
Ein
Krampf schüttelte sie aus ihrer Starre. Eine Weile war sie nicht
in der Lage zu sprechen, denn sie würgte an dem verzweifelten
Bemühen, ihre Schluchzer zu unterdrücken. Es gelang ihr
nicht. Ströme von Nass zwängten sich durch ihre
geschlossenen Lider.
»Es
tut mir leid«, stieß sie haspelnd hervor. »So
schrecklich leid.«
Ein
breiter Schatten legte sich über sie. Verschwommen nahm sie das
Weiß eines Taschentuchs wahr, ergriff es dankbar, um ihr
Gesicht trocken zu wischen.
»Es
ist schon gut, Fräulein Virchow, es braucht Ihnen nicht peinlich
zu sein.«
Die
Stimme des Gesandten klang sanfter als jemals zuvor. Viktoria
vermochte wieder entspannter zu atmen und sich aufzurichten, während
Max von Brandt rasch hinter seinen Schreibtisch flüchtete. Sein
Blick mied den ihren. Sie ahnte, dass ihm diese ganze Situation nicht
weniger peinlich war als ihr selbst.
»Nun
gut«, meinte er nach einem Räuspern. »Ich werde
sehen, was ich für Ihren Diener tun kann.«
Viktoria
bedankte sich, stand hastig auf, knickste und wandte sich zum Gehen.
Sie wusste, dass Max von Brandt sie niemals mehr auf einen
Gesandtschaftsball einladen würde, aber die Sehnsucht nach
solchen Geselligkeiten lag ohnehin weit zurück. Sie gehörte
zu einem anderen Leben. Als ihre Hand auf der Türklinke lag, kam
ihr plötzlich ein neuer Gedanke, und sie wandte sich noch einmal
um.
»Mein
Diener ist nicht einfach irgendein Chinese«, sagte sie
entschlossen. »Sein Vater war Brite, der verschollene Bruder
von Robert Huntingdon, einem recht angesehenen Geschäftsmann in
Shanghai. Ich kann es beweisen.«
Ihr
Kinn hob sich um ein paar Zentimeter. Sie fühlte sich endlich
nicht mehr als Bittstellerin, nun, da sie einen wichtigen Verbündeten
hatte. Max von Brandt war bereits wieder im Begriff, die Papiere auf
seinem Schreibtisch zu studieren.
»Interessant«,
murmelte er. »Ich werde es mir für den Notfall merken.«
******
Die
nächsten Tage suchte Viktoria verzweifelt nach irgendeiner
Beschäftigung, um nicht ständig im Zustand des Wartens zu
leben. Tagsüber übte sie geflissentlich Melodien, die sie
abends den Gästen der McGregors vortrug. Die Freude an dieser
neuen Aufgabe erwies sich als Geschenk des Schicksals. Viktoria ließ
ihre Finger mit Schwung über die Tasten fliegen und erntete
unverhofften Applaus. Nach ein paar Tagen schien der Speisesaal ein
wenig voller geworden zu sein, da auch Leute, die nicht in dem Hotel
wohnten, sich einzufinden begannen. Blondgelockte Pianistinnen gab es
nicht an jeder Straßenecke in Shanghai, und Viktoria schien die
in der Umgebung verstreuten Europäer und Amerikaner durch
vertraute Klänge anzulocken.
»Sie
sagt, wir können mit der Familie essen«, meinte Dewei zwei
Wochen später kurz vor der Mittagszeit. Viktoria brauchte nicht
zu fragen, wer diese >sie’ denn war, und folgte dem Jungen
in einen kleinen Raum hinter der Küche.
Die
McGregors saßen um einen großen Tisch mit zwei Bänken
versammelt, auf dem chinesische Schüsseln dampften. Teller
wurden herumgereicht, während das hierzulande übliche
Geschrei Viktorias höfliche Begrüßungsworte unhörbar
werden ließ. Es waren fünf Kinder, stellte sie fest, denn
sie hatte sie noch nie zuvor alle gleichzeitig zu Gesicht bekommen.
Drei davon sahen aus wie Chinesen, der älteste Sohn hingegen
hatte die rötlichen Locken seines Vaters geerbt und ein etwa
siebenjähriges Mädchen glich einem rotwangigen, blauäugigen
Engel aus einer barocken Kapelle, doch bildete sein pechschwarzes,
seidig glattes Haar
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