Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
werden.
»Er
muss gewaschen werden«, schnitt Shen Akeus Stimme in ihre
unerwartete Verbundenheit. Viktoria hob kurz den Kopf, um für
einen Moment eine alternde, schmächtige, enttäuschte Frau
vor sich zu sehen. Dann rückte Shen Akeu ihre Gesichtszüge
zurecht, verwandelte sich wieder in die unnahbar schöne,
geheimnisvolle Hure, doch fühlte Viktoria ihre Angst ebenso
schwinden wie ihre Abneigung. Der Schmerz, den sie auf Shen Akeus
Gesicht hatte lesen können, machte die Hure menschlich, denn
Viktoria wusste selbst gut genug, wie weh unerwiderte Gefühle
für einen Mann taten.
Shen
Akeu schob einen der Wassereimer heran.
»Zunächst
wischen wir das Blut ab und dann reiben wir ihn mit einer Salbe ein«,
bestimmte sie. Ihre Finger legten sich auf den zerfetzten Stoff von
Jinzis Hemd, das man ihm vor der Prügelstrafe nicht ausgezogen
hatte.
»Ich
muss das entfernen. Es wird nicht gerade angenehm für ihn sein.
Halten Sie also brav seine Hände und lassen ihn noch eine Weile
in Ihre blauen Augen sehen.«
Viktoria
gehorchte. Auf einmal schien die Gegenwart der Hure sogar
erleichternd. Sie sah, wie Shen Akeu die Stofffetzen mit raschen,
energischen Bewegungen fortriss. Jinzi zuckte mehrfach zusammen, am
Ende bäumte er sich auf. Er schrie nicht, doch wurde der Druck
seiner Finger so stark, dass Viktoria schließlich an seiner
Stelle zu wimmern begann.
»Habe
ich dir wehgetan? Das wollte ich nicht«, murmelte er. Viktoria
zwang sich zu lächeln.
»Schon
gut, es war nicht schlimm.« Sie strich über seine Wangen
und versuchte, jene Kruste aus Schmutz, getrocknetem Schweiß
und Blut, die sie bedeckte, sanft fortzuwischen.
»Mir
scheint, den Rest können Sie allein erledigen«, drang Shen
Akeus Stimme schnippisch an ihr Ohr. »Ich will nicht weiter
stören. Bitte waschen Sie ihn gründlich. Leute, die im
Gefängnis waren, stinken elendig. Und in diesem Topf ist die
Salbe für seine Wunden.«
Sie
hatte die Schultern gestrafft und das Kinn emporgestreckt, doch
schienen die Falten um ihre Mundwinkel tiefer als jemals zuvor.
Viktoria staunte, dass ihr der Anblick der Hure plötzlich
Mitgefühl einflößen konnte. Wie hatte eine derart
gerissene, erfahrene Frau sich in einen Mann verlieben können,
der ungefähr dreißig Jahre jünger war?
Die
Tür fiel zu und sie war allein mit Jinzi. Shen Akeus Anweisungen
entsprechend tauchte sie ein Tuch in den Eimer. Es war nicht einfach,
das Blut von seinem Rücken und Schädel zu wischen, denn
blieb sie sanft, so konnte sie es nicht gründlich genug
entfernen. Jinzi zuckte einige Male zusammen, forderte sie aber
sogleich auf, fortzufahren. Eine Ewigkeit verging, bevor sie endlich
zu der Salbe greifen konnte, die ihm offenbar wohltat, denn sein
Körper entspannte sich unter den neuen Berührungen.
»Schneide
den Zopf ab!«, zischte er, als sie endlich fertig war. »Ich
will diesen Mandschu-Rattenschwanz nicht an meinem Kopf.«
»Das
können wir machen, wenn es dir besser geht«, wich Viktoria
aus, doch er beharrte mehrfach auf seinem Wunsch. Schließlich
sah sie sich ratlos nach einem Messer um, konnte aber keines finden.
Als Rettung fiel ihr die kleine Nagelschere in ihrem Beutel ein. Mit
ihr Jinzis dickes Haar zu durchtrennen, erwies sich als mühselige,
zeitraubende Aufgabe, wobei die Erinnerung an seine einst so
prächtige Haarflut ihr wieder Tränen in die Augen trieb.
Als sie endlich fertig war, warf sie den Zopf erleichtert in eine
Zimmerecke und legte eine Hand auf seinen Nacken, die einzig
unverletzte Stelle, die sie an seinem Körper entdecken konnte.
»Es
wächst wieder«, versuchte sie ihn und auch sich selbst zu
trösten. »Bald schon ist es so lang und schön wie
vorher.«
Er
schlang einen Arm um ihre Taille und zog sie zu sich auf den Kang.
Sein Kopf zwängte sich an ihre Schulter, als er begann, ihren
Körper zu streicheln. Viktoria staunte über die plötzliche
Wärme zwischen ihren Beinen und ermahnte sich, dass dies nicht
der Moment für solche Empfindungen war. Sie fühlte seine
Hände an dem Verschluss ihres Kleides und stellte belustigt
fest, dass er mit den europäischen Knöpfen einige
Schwierigkeiten hatte. Schließlich kam sie ihm zu Hilfe. Er
schob eine Hand auf ihre Brust, um sie dort einfach nur liegen zu
lassen.
»Du
bist so weich und warm«, flüsterte er. »Ich dachte,
ich sehe dich nie wieder.«
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