Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Viktoria
lauschte seinen Atemzügen, die langsam tiefer und schwerer
wurden. Er roch weiterhin nach Elend, Angst und Schmutz. Sobald es
ihm etwas besser ging, würde er ein richtiges Bad brauchen. Sie
spürte deutlich den Druck seiner Rippen, die aus dem
abgemagerten Körper hervorstachen. Zaghaft strich sie über
sein ausgezehrtes Gesicht, bemerkte eine verschmutzte Schürfwunde
an der rechten Hand, die dringend noch gereinigt werden musste. An
beiden Daumen war die Haut aufgerissen, als hätte man ihn daran
aufgehängt.
Trotz
seines Zustands empfand sie nichts weiter als tiefe Erleichterung, ja
beinahe Glück, ihn wieder lebend an ihrer Seite zu wissen und
ohne Scheu berühren zu können.
Endlich
war Frieden zwischen ihnen.
7. Kapitel
»Es
ist gar nicht schwer«, meinte Viktoria. »Du musst nur auf
meine Füße schauen. Eins zwei drei, eins zwei drei …«
Sie
ließ ihre Hand vorsichtig auf Jinzis Schulter ruhen. Obwohl er
schon nach den ersten Tagen begonnen hatte, die Glieder zu strecken
und Übungen zu machen, damit sein Körper nichts an
geschmeidiger Beweglichkeit einbüßte, wusste sie, dass
sein Rücken ihn noch schmerzte.
»Du
willst mir doch nicht erzählen, dass Männer und Frauen bei
euch so öffentlich miteinander tanzen?«, kam es nun
ungläubig zurück. Jinzi hatte sie den Anforderungen gemäß
umarmt, aber die Schritte wollten ihm nicht so recht gelingen.
Stattdessen zog er Viktoria noch enger an sich heran, als in
Ballsälen üblich war. Sie verspürte ein nervöses
Kribbeln im Magen und riss sich zusammen. Jinzi sollte einfach nur
lernen, Walzer zu tanzen.
»Wir
tanzen so in der Öffentlichkeit miteinander«, erklärte
sie. »Anfangs löste dieser Tanz Empörung aus, aber
inzwischen hat man sich daran gewöhnt. Was stört dich denn
so daran?«
Er
lachte kurz. Viktorias Versuche, die Tanzschritte weiter auszuführen,
scheiterten endgültig an der Kraft seiner Umarmung.
»Weil
es völlig unmöglich ist, mit einer schönen Frau so zu
tanzen, ohne sich dabei ganz andere Dinge zu wünschen«,
flüsterte seine Stimme an ihrem Ohr.
»Alles
eine Frage der Selbstdisziplin«, erwiderte sie schnippisch.
»Und jetzt sieh endlich auf meine Füße.«
Beharrlich
vollführte sie ein paar Drehungen. Jinzi lief mit, doch hielt er
sich nicht an den Dreivierteltakt.
»Jetzt
streng dich an, du beherrschst deinen Körper doch sonst
vollkommen. So schwer kann das für dich nicht sein«,
mahnte Viktoria. »Diese Dinge solltest du können, wenn du
die Verwandten deines Vaters triffst. Ich werde dir auch noch zeigen,
wie wir essen und …«
Jinzi
brachte die nächste Walzerdrehung so schlagartig zum Stillstand,
dass Viktoria leicht ins Schwanken geriet. Wieder sah sie das
altbekannte, zornige Funkeln seiner Augen, doch erschreckte es sie
nicht mehr so sehr wie früher.
»Und
wenn ich all diese Dinge kann, dann wird man mich am Familientisch
sitzen lassen. Bei dem nächsten Fest, da kann ich mit all den
Ladies der internationalen Siedlung solche Kreise drehen. Meinst du
das denn wirklich?«, zischte er. Viktoria senkte den Blick. Zu
gern hätte sie ihm versichert, dass es genauso wäre, doch
hatte sie die Konsulatsbälle noch in zu guter Erinnerung. Nach
einigem Grübeln sah sie ihm wieder ins Gesicht.
»Ich
werde mit dir tanzen«, versprach sie. »Wann und wo du
willst. Ist das genug?«
Die
Umarmung wurde wieder enger.
»Es
ist mehr als genug«, erklärte Jinzi, nun völlig ruhig
und ernst. Dann bemühte er sich erstmals, die Tanzschritte
richtig auszuführen, und sie drehten ein paar Runden durch das
kleine Zimmer. Zwei Stühle gerieten ins Wanken, ein kleiner
Tisch klapperte und Viktoria stolperte schließlich über
eine herumliegende Decke.
»Diese
Kreise gehen auch viel einfacher«, grinste Jinzi schließlich,
legte nun beide Hände auf ihre Taille, um sie in die Höhe
zu heben. Dann wirbelte er sie herum, bis ihr schwindelig wurde und
sie beide lachend auf dem Kang landeten. Nun, da es draußen
Winter geworden war, wärmte er auf sehr angenehme Weise.
Viktoria spürte das Gewicht von Jinzis Körper. Diese Nähe
war ihr inzwischen vertraut, doch hatte sie seine Berührungen
bisher als das Suchen nach Trost und Wärme eines geschundenen
Menschen geduldet. Mehr zuzulassen wäre unklug, solange ihrer
beider Zukunft ungewiss war. Nun schmolzen all diese guten
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