Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Rechtssystem. Shen Akeu
lauschte aufmerksam.
»Hier
gibt es nur den Richter, der den Angeklagten und Zeugen befragt«,
sagte sie dann. »Und kaum jemand will Zeuge sein, weil Zeugen
auch erst einmal ins Gefängnis kommen. Trotzdem sind die Urteile
der Richter nicht immer gnadenlos. Dieser alte Bekannte von mir ist
kein schlechter Mensch. Was ihr macht, ist aber interessant. Haben
dann auch einfache, ungebildete Leute Aussicht auf ein milderes
Urteil, weil dieser … dieser Anwalt an ihrer Stelle redet?«
Viktoria
hätte das gern bestätigt, aber sie wusste aus Magdas
Erzählungen, dass die Wirklichkeit anders aussah.
»Ich
fürchte, nur reiche Leute können sich einen wirklich guten
Anwalt leisten«, gestand sie. Shen Akeu verzog das Gesicht.
»Warum
dann überhaupt diesen Anwalt? Man kann mit dem Geld auch einen
Richter bestechen, das ist schneller und sicherer. Es klingt wie eine
Beschäftigung für gebildete Söhne aus reicher Familie.
Sie werden Anwalt und glauben, sie kämpfen für
Gerechtigkeit, aber in Wirklichkeit helfen sie nur denjenigen, die
sich auch anderweitig helfen können.«
Sie
stieß ein feines Kichern aus. Viktoria fühlte Ärger
in ihrem Magen kribbeln, konnte dem aber kaum etwas entgegenhalten.
Sie hätte einer Hure keine derart komplexen Gedankengänge
zugetraut. Wenigstens lenkte das Gespräch sie ab, bis sie wieder
vor Shen Akeus Haus aus der Sänfte steigen konnte.
Jinzi
wurde ins obere Stockwerk geschleppt, wo ein kleiner Raum bereits für
ihn hergerichtet schien. Viktorias Augen erfassten rasch den üblichen
Kang in der Ecke, einen kleinen Tisch mit Essgeschirr und zwei Eimer
Wasser. Shen Akeu winkte die Sänftenträger hinaus, nachdem
Jinzi auf der Matte des Kangs abgelegt worden war. Es fiel Viktoria
nicht leicht, ihren Blick auf die blutige Masse zu richten, die
einmal sein Rücken gewesen war. Wieder quoll Spucke aus ihrer
Kehle. Sie hatte wohl zu wenig gegessen, um sich wirklich erbrechen
zu können, aber ihr Magen schmerzte dadurch umso heftiger.
Zögernd trat sie an den Kang heran. Nach diesem Wiedersehen
hatte sie sich gesehnt, gleichzeitig große Angst davor
empfunden, doch niemals hatte sie sich derartige Umstände
ausgemalt. Jinzis Kopf regte sich. Er schien bei Bewusstsein, was es
Viktoria plötzlich unmöglich machte, in sein Blickfeld zu
treten. Sie wollte erklären, wie leid ihr alles tat, da sprach
bereits Shen Akeu ein paar rasche chinesische Worte, deren Sinn
Viktoria nicht erfassen konnte. Jinzi sah nun in die Richtung der
Hure, was es Viktoria ermöglichte, unauffällig etwas näher
zu kommen. Sein Gesicht hatte eine gelblich fahle Färbung
angenommen und war derart eingefallen, dass die Wangenknochen wie
Beulen hervorstanden. Das prächtige, pechschwarze Haar fehlte,
nur eine lange Strähne blieb davon übrig, die zu einem
ungleichmäßigen Zopf geflochten war. Blutige Krusten auf
dem Schädel verrieten, dass wer auch immer ihn geschoren hatte,
dabei nicht sanft vorgegangen war. Viktorias Kehle wurde eng. Tränen
schossen ihr in die Augen, sie wollte schreien und vor Wut heulen.
Wer gab Menschen das Recht, jemanden wegen ein paar frecher Blicke
und einer als anstößig empfundenen Frisur derart
zuzurichten? Aber sie vermochte nur stumm dazustehen, reglos, hilflos
und ohne jeden Nutzen.
Sie
sah Erkenntnis in Jinzis Augen, als er Shen Akeu erblickte,
verhaltene Erleichterung, bevor er respektvoll den Kopf senkte und
ein paar Dankesworte murmelte. Viktoria wagte sich noch einen Schritt
näher. Nun musste er ihre Gegenwart erahnt haben, denn sein Kopf
drehte sich weiter rückwärts. Viktoria unterdrückte
den Wunsch, aus dem Zimmer zu rennen. Ihr Herzschlag schien
ohrenbetäubend laut. Würde er überhaupt noch mit ihr
sprechen wollen?
»Vi
Ki!«, vernahm sie seine Stimme und begann endgültig zu
weinen. Doch erstaunte sie das plötzliche Leuchten in seinen
Augen. Für einen kurzen Moment sah er so glücklich aus, als
sei dies ein ungewöhnlich schöner Tag in seinem Leben.
»Was
machst du hier?«, fragte er auf Englisch. Anstatt zu antworten,
eilte Viktoria heran und legte ihre Hand auf die seine. Ihre Finger
verflochten sich wie von selbst ineinander, und er drückte so
fest zu, dass sie erleichtert spürte, wie viel Leben noch in ihm
steckte. Mechanisch wischte sie mit der anderen Hand ihre Augen
trocken. Auf einmal fühlte sie sich stark genug, mit der Lage
fertig zu
Weitere Kostenlose Bücher