Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Du
musst versuchen, Shikai abzupassen, wenn er herauskommt. Ich kann ihm
im Moment keine weiteren Dollars mehr in die Hand drücken, aber
vielleicht erinnert er sich, wie großzügig ich früher
gewesen bin.«
Dewei
widersprach nicht und stellte keine Fragen. Nachdem Viktoria Jinzi
mehrfach versprochen hatte, vorsichtig zu sein, ging sie zusammen mit
dem Jungen los. Da sie kein Geld für eine Jinrikscha hatte,
kämpften sie sich zu Fuß durch die Enge der Chinesenstadt,
um dann auf die breiteren Straßen der internationalen Siedlung
zu gelangen. Vor dem Haus der Huntingdons musste Viktoria warten, bis
die Dämmerung hereinbrach. Erst dann tauchte Dewei wieder auf,
um sie an der Hand zu nehmen.
»Es
gibt einen Hintereingang, den die Dienstboten benutzen«, meinte
er nur. »Jetzt sitzen alle beim Abendessen. Du kannst
hereinkommen und in das Zimmer von Margaret Huntingdon eilen, die
bettlägerig ist. Wie du das erklärst, falls du entdeckt
wirst, bleibt aber dir überlassen. Du sollst Shikais Namen nicht
nennen, das wäre nicht recht.«
Viktoria
unterdrückte ein Lächeln. Hatte Jinzi den Jungen mit seinen
Prinzipien von Loyalität angesteckt? Sie würde Shikai nicht
verraten, zumal seine Beteiligung an ihrem Eindringen sich darauf
beschränkte, sie zu einem günstigen Moment ins Haus zu
winken. Sobald sie mit Margaret gesprochen hatte, brauchte sie Robert
Huntingdon vielleicht nicht mehr zu fürchten.
Die
hohen Wände und schweren Möbel befremdeten sie durch ihre
Ausmaße, sie hatte sich zu lange in keinem europäischen
Haus mehr befunden. Aber den Weg zu Margarets Zimmer kannte sie noch.
Sie raffte ihre Röcke und nahm so leise wie möglich zwei
Stufen auf einmal. Der Herzschlag hallte laut in ihren Ohren, sie
fürchtete fast, allein deshalb entdeckt zu werden. Stimmen
drangen an ihr Ohr, chinesisches Geplauder. Irgendwo saßen die
Bediensteten zusammen. Robert und Emily redeten kaum miteinander,
daran erinnerte sie sich noch sehr gut, und fand die Stille im Salon
daher nicht befremdlich. Noch drei Stufen, dann war sie bei Margarets
Tür. Sie bemühte sich ruhig zu atmen. Angeblich war die
alte Dame sehr krank. Sie durfte sie nicht aufregen, indem sie
hereinstürmte und ihr die Neuigkeiten entgegenrief, obwohl sie
erfreulich waren. Allein das unerwartete Wiedersehen würde
Margaret aufregen. Sie musste behutsam vorgehen und leise sprechen,
um nicht im Treppenflur gehört zu werden. Zaghaft legte Viktoria
ihre Hand auf die Klinke. Das Knarren, mit dem die Tür aufging,
schien ohrenbetäubend laut. Sie erstarrte, doch vernahm sie zum
Glück keine Schritte auf dem Flur. In dem Zimmer zeichneten sich
nur graue und schwarze Formen ab, denn Vorhänge sperrten das
letzte Dämmerlicht des Tages aus. Sie tastete sich an den
vertrauten Möbeln vorbei, um sie zur Seite zu ziehen. Die gelbe
Helligkeit von Straßenlaternen floss herein und zeigte
Margarets Gesicht als erschreckend eingefallen. Die leblose Hälfte
war zur Mumie erstarrt. Tiefe Atemzüge rasselten röchelnd,
was Viktoria an Betäubungsmittel denken ließ. Sie legte
ihre Finger sanft auf die knochige Hand der alten Dame, die wie eine
Vogelkralle auf der Bettdecke ruhte.
»Mrs.
Huntingdon«, flüsterte sie. Eine gefühlte Ewigkeit
verging, dann spürte sie plötzlich, wie ihr Griff erwidert
wurde. Die Augenlider der Kranken öffneten sich. Ein leerer
Blick streifte Viktoria, der kalt wurde. Die Möglichkeit, dass
der bisher unerschütterlich wache Geist der alten Dame ebenso
verfallen konnte wie ihr Körper, hatte sie bisher nicht in
Erwägung gezogen. Wenn Margaret nicht mehr in der Lage war,
Zusammenhänge zu erfassen und klar zu denken, war alles umsonst.
»Mrs.
Huntingdon«, wiederholte sie so ruhig wie möglich. »Kennen
Sie mich noch?«
Endlich
vermeinte sie einen Funken von Erkenntnis in den grauen Augen
wahrzunehmen.
»Da
sind sie ja endlich, Miss Virchow«, kam es in dem vertrauten,
leicht spöttischen Tonfall. »Sie haben länger
gebraucht, als ich erwartet hatte. Fast schon wäre es zu spät
gewesen. Viel Zeit habe ich nicht mehr.«
Ein
Hustenanfall erschütterte den mageren Körper. Speichel
schoss hoch und benetzte die Bettdecke. Viktoria spürte, wie ihr
Tränen in die Augen schossen. Verlegen wischte sie sie fort.
»Na,
na«, murmelte Margaret. »Bitte keine dramatischen Szenen,
sonst kommt der ganze Haushalt hereingestürmt.« Sie
drückte nochmals
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