Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
wieder ihre Rechte auf willkürliches
Wuchern zu beanspruchen. Büsche kletterten an halb verfallenen
Holzgebäuden empor, Teile der Grünflächen waren nur
von Frost bedeckte Öde und zu Viktorias Entsetzen lag der
bläulich verfärbte Leichnam eines Kindes zu Füßen
eines Baumes. Schnell wandte sie sich ab. Shen Akeu stieß einen
Seufzer aus.
»Mit
Sicherheit ein unerwünschtes Mädchen«, murmelte sie
und führte Viktoria schnell von dem hässlichen Anblick
fort, um ihr die von einem berühmten Künstler bearbeitete
Felsformation zu zeigen, angeblich die bedeutendste Sehenswürdigkeit
dieses Gartens. Sie hatte der jahrelangen Vernachlässigung Stand
gehalten, bezauberte immer noch durch harmonisch ineinander fließende
Formen. Shen Akeu wies zu einer überdachten Tribüne, auf
der eine klapperige Holzbank stand.
»Das
war einst eine Theaterbühne«, erzählte die Chinesin.
»Doch es ist viele Jahre her, dass es die letzte Aufführung
gab. Die endlosen Kriege in unserem Land, das Elend und die
Korruption machen fast alles kaputt, auf das wir stolz sein könnten.«
Eine
ausgemergelte Gestalt kam aus den Büschen gekrochen. Viktoria
fuhr erschrocken zusammen, doch der Bettler verbeugte sich
ehrfürchtig vor Shen Akeu, breitete eine Decke auf der Holzbank
aus und ließ scheinbar aus dem Nichts ein Kohlebecken
erscheinen.
»Ich
gebe den Bettlern Geld, damit sie diese Dinge für mich bewachen.
Das ist einfacher, als sie jeden Morgen mitzubringen«, sagte
die Chinesin, während sie sich setzte. »So können wir
in Ruhe frühstücken. Und es ist einigermaßen warm.«
Gemeinsam
verzehrten sie die Teigtaschen. Viktoria war stolz, mit den Stäbchen
nun völlig sicher umgehen zu können. Sie empfand keine
Angst mehr, auch keinen Widerwillen, neben der Hure zu sitzen.
»Dieser
Ort ist wunderschön«, gestand sie. »Ich bin sehr
froh, ihn sehen zu können. Bisher dachte ich, die Chinesenstadt
in Shanghai besteht vor allem aus Schmutz, Elend und Lärm.«
Kurz
erwog sie, ob Shen Akeu diese Worte beleidigend finden konnte, doch
es kam kein Widerspruch.
»Von
alldem gibt es hier auch mehr als genug. Ich staune nicht einmal,
dass die Europäer uns verachten«, gab die Chinesin zu.
»Dieser Garten erinnert daran, dass unser Land nicht immer so
ausgesehen hat.«
Eine
leichte Melancholie schwang in ihren Worten mit. Viktoria wollte
erklären, dass es auch in europäischen Städten
Elendsviertel gab, doch Shen Akeu gab ihr keine Gelegenheit dazu.
»Sie
scheinen ein nettes Mädchen zu sein«, meinte sie. »Damit
hatte ich nicht gerechnet. Jinzi ist kein solcher Narr, wie ich
zunächst meinte.«
»Womit
haben Sie denn gerechnet?«, wollte Viktoria wissen. Shen Akeu
lachte.
»Nun,
dass Sie ihm einen kräftigen, empörten Tritt versetzen,
sobald er Ihnen seine Gefühle erklärt. Ehrlich gesagt
gönnte ich es ihm sogar. Aber es kam völlig anders.«
Sie
wischte sich den Mund ab, an dem die Sojamilch einen weißen
Bart hinterlassen hatte.
»Sie
haben Möglichkeiten, von denen viele Frauen nur träumen«,
fügte sie dann hinzu. Nun war es an Viktoria zu kichern.
»Ach
ja, und die wären?«
Shen
Akeu blieb völlig ernst.
»In
der internationalen Siedlung gibt es viele Männer, die eine
Ehefrau aus ihrem eigenen Volk wollen. Von diesen Frauen leben nicht
allzu viele in Shanghai. Sie sind jung, hübsch und haben ein
durchaus angenehmes Wesen. Wenn Sie sich nicht völlig dumm
anstellen, dann könnten Sie sogar ihre eigene Wahl treffen.«
Viktoria
schüttelte den Kopf. Das also wieder einmal.
»Ich
bin eben sehr wählerisch. Außerdem habe ich mich zu oft
daneben benommen. Dieses Versprechen, das ich Ihnen gab …«
Shen
Akeu unterbrach durch eine ungeduldige Handbewegung.
»Ich
meinte es nicht ernst. Eine Lao Wai in meinem Haus anzubieten würde
mir mehr Ärger einbringen als Gewinn. Ich wollte nur sehen, was
Sie für Jinzi zu tun bereit waren. Hätten Sie abgelehnt,
dann hätte ich ihn ebenfalls aus dem Gefängnis geholt. Aber
Sie hätten es nicht erfahren.«
Viktoria
lehnte sich auf der Bank zurück. Sie konnte nun etwas
entspannter atmen.
»Ich
danke Ihnen, dass Sie mich holen ließen. Das war sehr
großzügig, ich meine, in Anbetracht der Umstände.«
Sie
schluckte. Vielleicht war es ungeschickt, auf Shen
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