Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Viktorias Hand. »Ich muss noch ein paar
Dinge in Ordnung bringen. Also, haben Sie meinen Enkel gefunden?«
Viktoria
nickte und richtete sich auf. Margarets Verhalten schien nun so
normal, dass sie einfach nur ihre Gedanken auszusprechen begann.
»Sie
hätten mir auch gleich sagen können, worum es ging, anstatt
mich mit ein paar unklaren Hinweisen ratlos herumtappen zu lassen.«
Margarets
lebendige Gesichtshälfte verzog sich ungeduldig.
»Ich
hatte kein Recht, etwas von Ihnen zu verlangen. Aber mir war
aufgefallen, wie neugierig und abenteuerlustig Sie sind. Ich dachte,
wenn Sie erst einmal Blut gerochen haben, dann erledigen Sie es ganz
allein, ohne irgendeine Bitte von mir. Und ich hatte Recht, wie man
sieht.«
Viktoria
zog einen Stuhl heran und setzte sich. Es gab so vieles, das sie
immer noch nicht begriff.
»Woher
wussten Sie, dass ich im Haus des Mandarins Lao Tengfei den Weg zu
Ihrem Enkel finden würde?«
»Ich
wusste es nicht, ich hoffte es nur. Es war ein glücklicher
Zufall, ein Wink des Schicksals.«
Margaret
versuchte, sich mit ihrem beweglichen Arm aufzustützen. Viktoria
half, indem sie das Kissen unter ihren Rücken schob.
»Als
ich mich damals langsam wieder von einem geistlosen Wurm in ein
menschliches Wesen verwandelte, als mein Verstand sich zu erinnern
begann, was alles geschehen war«, erzählte Margaret, »da
bat ich den Komprador meines verstorbenen Mannes, nach der Frau zu
suchen, die mein Sohn geliebt hatte. Ich wusste, Andrew hätte
sich gewünscht, dass ich sie unterstützte. Meinem Enkelsohn
war ich es ohnehin schuldig. Ihre Spur ließ sich bis nach
Nanjing verfolgen, denn von Andrew wusste ich, wie die Familie ihres
ersten Mannes hieß. Ich erfuhr, dass sie ihre Tochter dort
zurückgelassen hatte, bevor sie in der Weite Chinas verschwand.
So, wie Andrew sie mir geschildert hatte, war mir klar, dass sie kein
Kind einfach verlassen würde, ohne später nach ihm zu
sehen. Ich erfuhr, dass diese Tochter einen Mandarin in Peking
geheiratet hatte. Und als eben dieser Mandarin eine Erzieherin für
seine Töchter suchte … Sie müssen mir vergeben, aber
wie hätte ich widerstehen können, Ihnen diese Stelle
schmackhaft zu machen? Mehr konnte ich nicht tun. Ich wartete. Bis
jetzt.«
Viktoria
fühlte plötzlich eine schwere Last auf ihren Schultern, die
sie niederdrückte. Margarets Worte wiesen in eine eindeutige
Richtung.
»Ist
Andrew tot?«, fragte sie flüsternd. Margarets Kinn sank
hinab, was einem Nicken glich.
»Wie
ist er gestorben?«, drängte Viktoria. »Hat …
hat Robert ihn getötet?«
Sie
wusste nicht, wann diese Ahnung in ihr erwacht war. Vielleicht in dem
Moment, da sie von Roberts Schuld an Jinzis Schicksal erfahren hatte.
Margaret starrte durchs Fenster in die Ferne, als könne sie dort
Dinge sehen, die für andere Menschen unsichtbar blieben.
»Mein
Enkel«, murmelte sie. »Mein Enkel, er lebt. Nicht wahr,
er lebt?«
»Ja,
er ist wohlauf«, versicherte Viktoria und tätschelte
Margarets Hand. Die alte Dame reagierte nicht. Ein Zucken fuhr durch
ihren Körper.
»Ich
will ihn sehen. Wann kommt er hierher?«
»Sobald
es möglich ist«, versprach Viktoria. »Aber zunächst
müssen wir ein paar Dinge klären. Was geschah damals, als
Andrew zurückkam?«
»Ich
will ihn sehen«, wiederholte Margaret, ohne auf diese Worte
einzugehen. »Meinen Enkel. Ich will ihn sehen … ihn
sehen … wann kommt er?«
Ihre
Stimme war unnatürlich schrill geworden. Speichel floss aus
ihren Mundwinkeln. Viktorias Hoffnung, dass die alte Dame noch einen
völlig klaren Verstand besaß, wurde durch dieses
hysterische Kreischen zerstört. Tränen benetzten Margarets
Wangen.
»Ihn
sehen … ihn sehen … ihn sehen«, plärrte sie
nun völlig hysterisch. Ihr lebendiges Bein trat immer wieder
gegen unsichtbare Feinde. Es erstaunte Viktoria nicht einmal, als
hinter ihnen die Tür aufging. Margaret wurde von einer noch
helleren Stimme übertönt, die im Pidgin der
Hausangestellten schrie.
»Böse
Frau, schlechte Frau! Was machen hier? Wollen stehlen, wollen stehlen
…«
Viktoria
wandte sich um und spürte das zornige Blitzen in den Augen der
Amah wie heftiges Kratzen im Gesicht. Dieser Chinesin war sie stets
zuwider gewesen, weil alle grundanständigen, prinzipientreuen
Frauen dieser Welt sie
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