Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
sprühte vor Ideen, seine Fantasie
kannte keine Grenzen. Mit ihm konnte ich Kunst und Literatur jeden
Tag neu erleben. Sein Interesse an chinesischer Kultur gefiel mir,
ich unterstützte es. Robert hingegen, so nüchtern und
sachlich, erschien mir ein Langweiler. Eine Mutter sollte ihre Liebe
in gleichen Teilen an all ihre Kinder vergeben, ich weiß. Aber
es war so schwer. Als Robert bereits mit sechzehn begann, all seine
Freizeit in unserem Kontor zu verbringen, sah ich darin nur die
Bestätigung meiner Annahme, dass er eben eine Krämerseele
war. Ich begriff nicht, wie sehr er sich um meine Anerkennung
bemühte, indem er mir Aufgaben abnahm, die ich nicht mochte.«
Ein
Hustenanfall erschütterte Margaret. Viktoria strich ihr sanft
über den Rücken, aber sie brannte vor Neugier.
»Warum
ging Andrew damals fort, wenn Sie sich doch so gut mit ihm
verstanden?«, trieb sie die Geschichte voran. Margaret seufzte.
»Wegen
Emily.«
Viktoria
begriff nicht, was damit gemeint sein konnte. Dann fiel ihr ein Satz
ein, den Andrew einst zu Yazi gesagt hatte. Dass Menschen ihn zu sehr
liebten.
»Andrew
und Emily?«, tappte sie sich ratlos durch das Dunkel. Die
Vorstellung schien nicht stimmig. Emily war eine blasse, verhuschte,
verbitterte Frau. Andrew mussten weibliche Herzen zugeflogen sein.
»Robert
hatte eine chinesische Geliebte, wie die meisten jungen Engländer
hier«, redete Margaret weiter. »Der Komprador hatte sie
ihm zugeführt, so wie man hierzulande eben mit vielen Frauen
umgeht, aber ich glaube, sie konnte Robert gut leiden. Doch als er
nach seiner ersten Englandreise eine standesgemäße Braut
gefunden hatte, da beendete er diese Beziehung. Er tat immer, was er
tun musste, ganz gleich, wie schwer es ihm fiel. Emily kam nach
Shanghai. Ich sah auf den ersten Blick, warum sie meinen jüngeren
Sohn geheiratet hatte. Ein Mädchen ohne besondere Mitgift,
leidlich hübsch, das war sie damals, aber so schrecklich
schüchtern, dass sie überall übersehen wurde. Sie
hatte gar keine andere Wahl, als den ersten Heiratsantrag anzunehmen,
denn ein zweiter würde vielleicht nicht mehr kommen. Doch werden
viele Ehen aus solchen Gründen geschlossen und funktionieren
dann. Bei Robert und Emily wäre es vielleicht ähnlich
gewesen, wenn sie in England geblieben wären.«
Margaret
verstummte für einen Moment. Das Reden schien sie anzustrengen,
denn sie atmete tief mit halb geschlossenen Lidern. Viktoria
verkrampfte nervös die Hände. Sie hatte kein Recht, eine
alte, schwer kranke Frau zu drängen, aber ihr blieb vermutlich
nicht viel Zeit.
»Emily
hasst China«, knüpfte sie durch eigene Eindrücke an
die Geschichte an.
»Nicht
jeder Mensch ist dazu geschaffen, in der Fremde zu leben«,
bestätigte Margaret ihre Aussage. »Die Zeiten waren damals
hart in Shanghai, denn wir blieben nicht unberührt vom
Bürgerkrieg. Hungernde Flüchtlinge überschwemmten
unsere bisher so geordnete internationale Siedlung, und immer wieder
kursierten Gerüchte, die Taiping-Armee würde uns angreifen.
Kein guter Einstieg für eine ängstliche, misstrauische Frau
wie Emily. Sie brauchte Wochen, um endlich einen Fuß vor die
Haustür zu setzen.«
Leise
Verachtung schwang in Margarets Stimme mit. Emily hatte es wohl nicht
leicht gehabt mit einer energischen, abenteuerlustigen
Schwiegermutter, die wenig Verständnis für furchtsame
Menschen aufbringen konnte. Zum ersten Mal empfand Viktoria ein wenig
Mitgefühl für die so bittere, in sich selbst verschlossene
Frau.
»Und
Andrew?«, drängte sie auf eine Fortsetzung der Geschichte.
»Andrew
kam und ging, wie es ihm gefiel. Geschäfte interessierten ihn
nicht. Er war stets ein brillanter Schüler gewesen und studierte
nun chinesische Literatur bei einem Gelehrten, den unser Komprador
ihm vermittelt hatte. Er war für zahllose Liebschaften bekannt,
mit Chinesinnen und auch gelangweilten englischen Ehefrauen. Eine so
verhuschte Person wie Emily hätte er normalerweise kaum
beachtet, aber gerade durch ihr offen zur Schau getragenes Unglück
weckte sie sein Mitgefühl. Er begann mit ihr über
chinesische Geschichte und Kultur zu sprechen, wollte ihr dadurch das
Einleben erleichtern. Leider erzielte er eine völlig andere
Wirkung. Emily wurde mit China weiterhin nicht warm, aber bald schon
schwärmte sie für Andrew. Ich glaube, so viel
Aufmerksamkeit hatte ihr noch niemand jemals
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