Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
und Herrn Salomon in die
Villa gekommen war, doch hatte seine hauptsächliche Aufgabe
darin bestanden, Akten zu tragen. Bei dem geschäftlichen
Gespräch war er nicht erwünscht gewesen, was ihm die
Möglichkeit gegeben hatte, mit Magda zu plaudern. Danach war es
sehr schnell zu einer ersten Verabredung gekommen, bei der Richard
sich > überaus
anständig < verhielt. Offenbar wies ein erfahrenes Mädchen aus dem
Gängeviertel voreheliche Annährungsversuche mit jener
Entschlossenheit zurück, die Amalia Virchow an ihrer Tochter
vermisst hatte.
»Heute
wirst du ihn treffen«, fügte sie schließlich hinzu.
»Ich hoffe mit dieser Stelle geht alles gut. Du musst mir
Briefe schreiben.«
Viktoria
nickte und schloss wieder die Augen, denn der Ehekrach über
ihnen hatte sich nach lautem Türenknallen in ein leises,
einsames Schluchzen verwandelt. Hier im engen Gängeviertel gab
es kaum Privatsphäre, hinter der sich die Abgründe
menschlichen Zusammenlebens verbergen ließen, und wenige
Möglichkeiten, einander aus dem Weg zu gehen. Vielleicht, so
überlegte Viktoria, war das der wirkliche Unterschied zwischen
reichen und armen Familien, und entspannte sich, um noch ein bisschen
zu schlafen. Sie wusste, dass sie genug Grund hatte, um aufgeregt zu
sein, doch die Erlebnisse der letzten Monate hatten sie in einen
Kokon gehüllt, der die Außenwelt abschirmte. Sie würde
die Dinge hinnehmen müssen, ganz gleich, was geschah.
******
Sie
trafen Magdas Verlobten Richard in einem Kaffeehaus in der Nähe
des Alsterufers. Es war nicht der vornehme Alsterpavillon, den ein
ehrgeiziger kleiner Angestellter sich wohl noch nicht leisten konnte,
aber eine durchaus reinliche Lokalität, die keinerlei
Ähnlichkeiten mit den Bierlokalen aus dem Gängeviertel
hatte. Magda trug ein hochgeschlossenes Kleid aus braunem Leinen.
Viktoria konnte sich erinnern, es ihr einmal großzügig
überlassen zu haben, da es ihr selbst zu altbacken erschienen
war. Nun wirkte sie in ihrem zerschlissenen Musselin wie die ärmliche
Verwandte der einstigen Zofe, was ihr einen leichten, aber
unangenehmen Stich versetzte. Sie ahnte, dass Magdas Zukünftiger
nicht mit allzu großer Deutlichkeit mitbekommen sollte, aus
welchen Verhältnissen seine Braut stammte. Magda, nun wieder
ohne Anstellung, kämpfte mit Zähnen und Krallen darum, dem
Elend zu entkommen.
»Es
freut mich, Sie wiederzusehen, Fräulein Virchow«, wurde
Viktoria von einem kleinen Mann mit schwabbeligem Bauchansatz und
dünnem Haar begrüßt, der ihr ehrfurchtsvoll die Hand
küsste. Sie konnte sich trotz pflichtbewusster Beanspruchung
ihres Gedächtnisses nicht erinnern, ihn jemals gesehen zu haben.
Ein so farbloses Gesicht wie das seine hätte sie sich ohnehin
nicht gemerkt. Früher hatte sie nicht einmal den Namen von
Magdas Verlobten gekannt. Sie wusste lediglich, dass er zu der
Abteilung von Herrn Salomon gehört hatte, jenes leitenden
Angestellten, der damals nach China geschickt worden war.
»Ich
hoffe, Sie fühlen sich in der Firma weiterhin wohl«,
begann sie höflich ein Gespräch.
»Oh,
es hat sich nicht viel verändert. Herr Behm ist weiterhin
Geschäftsführer. Er hat rechtzeitig …«,
Richard räusperte sich. »Er hatte schon vorher Kontakte zu
den neuen Besitzern.« Schweißflecken glänzten auf
seiner Stirn, und Viktoria ahnte, dass die Begegnung mit der Tochter
des ruinierten, ehemaligen Eigentümers der Reederei ihm
unangenehm war. Wie ein Hamster mit breiten Backen nagte er an seiner
Unterlippe. Was fand ein hübsches Mädchen wie Magda bloß
an diesem Mann? Genügten ihr allein ein gutes Einkommen und
Zuverlässigkeit? Nach zwei Wochen im Gängeviertel konnte
Viktoria es allmählich verstehen, wenn auch nicht wirklich
nachvollziehen.
»Mein
Vorgesetzter Herr Salomon reiste damals nach China, um
Geschäftsbeziehungen aufzubauen«, redete der aufstrebende
Angestellte weiter. »Er traf sich unter anderem mit einem
britischen Kaufmann namens Robert Huntingdon. Der besorgte die Waren
und versprach einen sicheren Transport.«
»Da
war der Engländer aber allzu optimistisch«, warf Viktoria
ein.
»Ja
… er beging sozusagen einen Fehler. Er verließ sich ganz
auf die britische Marine, die chinesische Piraten schon lange
erfolgreich bekämpft. Doch fuhren die Schiffe eine andere Route,
die Ware wurde zunächst auf Flüssen transportiert, wo die
Piraten noch sehr aktiv sind. Es ging jedenfalls
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