Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Einmal hatte Viktoria die Amah
beim Verhandeln mit Straßenhändlern beobachtet. Da hatte
das zarte Wesen sich in einen erwachsenen Menschen verwandelt, der
sehr laut kreischte und offenbar genau wusste, was er wollte. Doch
sobald ein europäisches Gesicht vor ihr auftauchte, sah die
Chinesin sich genötigt, wie eine dienstbare Kreatur von
beschränktem Verstand aufzutreten.
Die
Amah erschien mit einer dampfenden Teekanne und zwei zarten, rosa
gemusterten Tassen. Wieder konnte Viktoria ein neugieriges Starren
auf die winzigen Hufe nicht unterdrücken. Sie spürte einen
feindseligen Blick aus den schmalen Augenwinkeln und zog die
Schultern zurück. Sobald sie auf die Straße trat, wurde
sie selbst doch genug angegafft!
»So,
jetzt können wir in Ruhe ein bisschen plaudern«, meinte
Margaret Huntingdon und kämpfte sich mühsam in eine
aufrechte Position. Viktoria hatte mittlerweile gelernt, der Dame nur
zu Hilfe zu kommen, wenn es unbedingt nötig war, denn sie legte
Wert auf größtmögliche Unabhängigkeit.
»Wie
gefällt es Ihnen denn bisher bei uns in Shanghai, Miss
Virchow?«, fragte Margaret Huntingdon, nachdem die Teetassen
gefüllt worden waren. Viktoria zuckte etwas ratlos mit den
Schultern.
»Es
gibt keinen Grund zur Klage.«
Das
stimmte. Die Lektüre der Brontë-Schwestern hatte ihr ein
deutliches Bild von dem Schicksal mittelloser Damen in dieser Welt
vermittelt. Als Gesellschafterin einer humorvollen, umgänglichen
Lady führte sie ein durchaus angenehmes Leben. Ihre
hauptsächlichen Aufgaben bestanden im Plaudern oder im Lesen von
Büchern, die sie ohnehin mochte. Das erste Gehalt hatte ihr ein
neues Musselinkleid mit strahlend frischem Blumenmuster ermöglicht.
Bei der Hitze, die bereits im April hier herrschte, wäre es
eigentlich nötig gewesen, sich mehrfach täglich zu waschen
und neu umzukleiden. Aber selbst das hätte kaum etwas genützt,
denn bereits nach den ersten Minuten spürte man wieder, wie
Schweißbäche kitzelnd die Haut entlangflossen. Viktoria
begann, sich allmählich daran zu gewöhnen. Sie weigerte
sich, ein Korsett anzulegen, das nun endgültig ein
Folterwerkzeug gewesen wäre. Emily Huntingdon, die Gemahlin des
Hausherrn, trug eines, wie an ihrer steifen Haltung zu erkennen war.
Viktoria trotzte tapfer den kritischen Blicken der Hausherrin, der
sie Gott sei Dank nur selten begegnete. Margaret Huntingdon war es
völlig egal, wie ihre Gesellschafterin aussah. Überhaupt
glich die alte Dame jenem Wunschbild einer verständnisvollen
Mutter, das Viktoria lange in sich getragen hatte. In ihren Diensten
fühlte sie sich, als läge sie tagaus tagein auf einem Sofa,
wo sie gemütlich die Zeit vertrödeln konnte. Nur manchmal
kribbelte die Unruhe in ihrem Körper, fraß sich bis in die
Knochen. Es musste mehr geben, das sie in diesem fremden,
geheimnisvollen Land tun konnte.
»Kein
Grund zur Klage, das klingt aber, als ob es auch keinen Grund zur
Freude gäbe«, riss Margaret Huntingdon sie aus ihren
Überlegungen. Viktoria stellte ihre Teetasse ab.
»Nun,
manchmal, ja sogar sehr oft, hätte ich lieber Kaffee als Tee«,
gestand sie unumwunden. Die alte Dame lächelte kopfschüttelnd.
»Also
dieser bescheidene Wunsch dürfte sich erfüllen lassen. Ich
werde mit Emily reden, denn sie gibt den Dienstboten Weisungen für
Einkäufe. Natürlich muss den Chinesen auch erklärt
werden, wie Kaffe zubereitet wird. Aber sie sind nicht dumm, die
Chinesen, wie ich Emily immer wieder klarzumachen versuche, obwohl
sie mir nicht glauben will.«
Viktoria
nickte, obwohl sie nicht wirklich wusste, was von Chinesen zu halten
war. Innerlich triumphierte sie, denn Kaffee zu bekommen wäre
ein weiterer, kleiner Sieg gegen die Widrigkeiten ihres Schicksals.
Gouvernanten und Gesellschafterinnen fielen unter die Kategorie der
Domestiken, verdienten keine besondere Beachtung und entbehrten
jeglichen Rechts, eigene Ansprüche zu stellen.
»Ich
werde einfach sagen, dass ich selbst mir Kaffee wünsche«,
fuhr Margaret Huntingdon fort, als habe sie diese Gedanken lesen
können. »Wir bringen die aufrechte Schwester Maud
vielleicht so weit, dass sie sagt, er täte mir gut. Das könnte
sogar stimmen. Damals, als ich meinen James geheiratet hatte und wir
zusammen nach Wien fuhren …«
Es
folgte eine Geschichte, die sich in einem edlen Kaffeehaus abspielte,
wo dieses Getränk einen betörenden, verführerischen
Duft
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