Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
kurzem Überlegen
ein. »Aus Rücksicht auf Ihr mitfühlendes Herz soll
dieses Kind sich meinetwegen in Ihrer Obhut erholen. Dann schlage ich
vor, Sie bringen ihn in eine der Missionen hier in Shanghai. Er wird
anständig und christlich erzogen werden, eine moderne
Schulbildung erhalten. Etwas Besseres kann einem jungen Chinesen kaum
widerfahren.«
Er
trat einen Schritt zurück, zog wiederum an der Zigarre und
richtete seinen Blick zum Fenster.
»Sie
können jetzt gehen, Miss Virchow«, meinte er nur. »Meine
Mutter erwartet Sie.«
Viktoria
wurde klar, dass er es nicht für nötig hielt, auf ihr
Einverständnis zu seinem Vorschlag zu warten. Sie stand auf und
verabschiedete sich so freundlich sie konnte. Trotzdem klang ihre
Stimme bissig, was der Hausherr entweder nicht wahrnahm oder
ignorierte.
******
Mit
einem Seufzer betrat sie Margarets Zimmer. Ihr wurde etwas wohler,
als sie die vertraute Gestalt in ihrem Sessel ruhen sah, denn
Margaret gab ihr niemals das Gefühl, eine Untergebene zu sein.
»Wie
geht es Ihnen, Mrs. Huntingdon?«, fragte sie und schloss leise
die Tür hinter sich. Es kam keine Antwort. Auf dem Schoß
der alten Dame lag ein aufgeschlagenes Buch. Sie hatte die Augen
geschlossen und den Kopf zurückgelegt. Ihre Brust hob und senkte
sich in ruhigen Atemzügen. Dewei kauerte an ihrer Seite.
Margarets rechte Hand strich sanft über sein pechschwarzes Haar.
Er hatte sich an ihre Beine geschmiegt.
Viktoria
trat zaghaft vor. Der Anblick dieser idyllischen Vertrautheit tat
fast weh, denn sie fühlte sich ausgeschlossen. Der Junge wandte
ihr sein Gesicht zu und lächelte sie zum allerersten Mal an. Auf
einmal schien er weder fremd noch vollkommen andersartig.
»Er
ist ein aufgewecktes Kind«, murmelte Margaret ohne
aufzublicken. »Er mag Geschichten. Er brachte mir das Buch, als
ich darum bat. Dann habe ich ihm vorgelesen. Nickolas Nickleby. Es
hat ihm gefallen. Er hörte die ganze Zeit zu.«
»Haben
Sie es denn für ihn übersetzt?«, fragte Viktoria
verwirrt. Was sollte ein kleiner Chinese mit einem englischen Roman
anfangen? Nun, bei Dickens ging es um arme, ausgebeutete Kinder, also
wenn Margaret wirklich übersetzt hatte …
»Ein
kluger, nachdenklicher Junge, mein Andrew. Wir verstehen uns
hervorragend«, redete Margaret unbeirrt weiter und streichelte
das Haar des kleinen Chinesen, der darüber höchst erfreut
schien.
Viktoria
setzte sich stumm auf einen Stuhl. Hatte Margaret Dewei einen
englischen Namen gegeben? Aber sie hatte die alte Dame bereits von
einem Andrew reden hören. Eine Ahnung erwachte in ihr.
»Ist
Andrew Ihr Sohn?«, fragte sie vorsichtig. Margaret beugte sich
leicht zur Seite, doch sah sie Viktoria nicht an. Sie kicherte, als
habe jemand eine besonders dumme Frage gestellt.
»Ja,
natürlich, er ist mein Goldjunge. Immer wieder kommt er zu mir,
um Geschichten zu hören.«
Ihre
Hand lag immer noch auf Deweis Kopf, aber sie streichelte ihn nicht
mehr. Nach einer kurzen Pause fuhr Margaret sich über die Stirn
und wandte ihrer Gesellschafterin das Gesicht zu. Sie wirkte
verstört, als sei sie aus einem Traum in die Gegenwart gerissen
worden.
»Ach,
Miss Virchow, da sind Sie ja! Haben wir uns unterhalten? Sie müssen
meinem Gedächtnis nachhelfen, ich glaube, ich bin kurz
eingenickt.«
Nun
lächelte sie wieder auf ihre übliche leicht verschmitzte
Art. Viktoria zögerte einen Moment. Sie ahnte, dass sie sich auf
gefährliches Terrain wagte, doch siegte ihre Neugier.
»Sie
haben mir von Ihrem Sohn Andrew erzählt«, meinte sie
schließlich. Margaret erstarrte. Ihre Finger krallten sich um
die Lehnen des Sessels, als habe sie Angst, in ein unsichtbares Loch
zu stürzen.
»Ich
habe … ich habe von Andrew gesprochen? Es tut mir leid, ich
weiß, das soll ich nicht. Robert … Sie dürfen es
Robert nicht sagen.«
Ein
Zittern fuhr durch ihren Körper. Viktoria stieg der Schweiß
aus den Poren, doch war sie das in der Hitze bereits gewöhnt.
»Geht
es Ihnen nicht gut?«, fragte sie nur. Margaret fand ihre Ruhe
sogleich wieder, klappte langsam das Buch auf ihrem Schoß zu.
»Ach,
mir geht es prächtig. Ich habe Dewei ein bisschen vorgelesen und
ihm die Geschichte dann erklärt. Kinder lernen Sprachen einfach
durch Zuhören. Sogar ganz fremde, wie das Chinesische. Ich habe
es an meinen Söhnen
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