Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
einfach
bei ihr.
»Nein«,
log sie ohne zu zögern. Dewei hatte sofort gewusst, dass man ihn
verantwortlich machen würde. Wo versteckte er sich bloß?
»Ich
glaube, es war meine Schuld«, fügte Viktoria schnell
hinzu. Sie musste den Jungen schützen. »Ihre Mutter redete
von … von einem Sohn namens Andrew.«
Ein
leiser, wimmernder Laut drang aus Emilys Mund. Robert sah seine Frau
mit wütend funkelnden Augen an, und sie sackte leicht zusammen.
»Und?«,
fragte er unnötig schnell.
»Und
ich habe nachgefragt«, gestand Viktoria. »Ich wollte
wissen, was mit diesem Sohn geschehen ist. Es tut mir sehr leid, wenn
es unangebracht war, aber …«
»Schon
gut«, unterbrach Robert. »Was hat meine Mutter Ihnen
erzählt?«
Seine
Schritte beschleunigten sich. Er zog eine Zigarre heraus, die er ohne
Rücksicht auf sämtliche Damen der Welt anzündete.
»Sie
sagte, Andrew sei fortgegangen und nach ein paar Jahren
zurückgekommen«, erzählte Viktoria.
Emily
sank auf einen Stuhl. Robert blieb stehen, als sei er plötzlich
versteinert. Nach einer Weile kam wieder Leben in seine Gestalt, er
zog gierig an der Zigarre und pustete Rauch in den Salon.
»Ich
hatte einen älteren Bruder namens Andrew«, gestand er nach
einer kurzen Pause. »Er war der Liebling meiner Mutter, ein
Abenteurer, so wie sie. Er verließ uns vor über zwanzig
Jahren, um China zu erforschen. Doch …«
Robert
wandte sich Viktoria zu und stützte sich mit beiden Händen
auf dem Tisch ab, wie immer, wenn er eine bedeutungsvolle Äußerung
zu formulieren gedachte.
»Doch
er ist niemals wiedergekommen. Wir haben nichts mehr von ihm gehört.
Verstehen Sie? Meine Mutter sehnt sich danach, ihn wiederzusehen,
sein Fortgehen brach ihr das Herz. Es wäre sehr vernünftig,
Miss Virchow, wenn Sie niemals wieder Andrews Namen in Gegenwart
meiner Mutter erwähnen würden.«
Viktoria
senkte schuldbewusst den Blick.
»Ich
werde es nicht tun. Das verspreche ich.«
Angst
schnürte ihr die Kehle zu. Was sollte sie allein in Shanghai
anfangen, wenn sie diese Stellung verlor?
Zu
ihrer Erleichterung wurde ihr gestattet, sich in ihr Zimmer
zurückzuziehen. Erschöpft schlich sie die Stufen hoch,
öffnete die Tür und erstarrte, als sie Dewei auf seiner
Matte kauern sah. Er umklammerte mit beiden Armen die Knie, sah ihr
furchtsam entgegen.
»Es
war nicht deine Schuld, das weiß ich«, rief sie, obwohl
er sie nicht verstehen konnte. »Keine Angst, sie schicken dich
nicht gleich fort. Und Margaret wird wieder gesund. Sie will dir
sicher bald wieder etwas vorlesen.«
Dann
schloss sie den Jungen zum ersten Mal in die Arme.
******
Als
es endlich dunkel geworden war, lag Viktoria mit weit aufgerissenen
Augen im Bett und lauschte dem Ticken der Uhr. Vor dem Fenster
schrien ein paar chinesische Stimmen. Licht drängte sich durch
die Gardinen. Ein Hafen schlief niemals, das kannte sie bereits aus
Hamburg. Gewöhnlich störte das nächtliche Treiben sie
nicht, doch nun, da sie sich ohnehin hin und her wälzte, wäre
etwas mehr Ruhe paradiesisch gewesen.
Andrew
war fortgegangen und galt als verschollen. In einem wilden Land wie
China konnte das sicher geschehen. Aber was hatte es mit diesem Ring
auf sich? Vermutlich war er nur ein Wunschtraum der alten Dame, die
sich ein Erinnerungsstück an ihren geliebten Sohn wünschte.
Falls
sich jedoch wirklich ein Ring in der Schmuckschatulle verbarg, so
konnte dies nur bedeuten, dass Robert log. Andrew war zurückgekommen
und war jetzt trotzdem nicht mehr hier.
Viktoria
richtete sich auf. Sie vermochte einfach nicht zu schlafen, es hatte
keinen Sinn, sich darum zu bemühen. Sie hörte Dewei, der
neben ihr auf seiner Matte lag, etwas auf Chinesisch murmeln. Seine
Stirn glänzte schweißbedeckt im eindringenden Licht.
Viktorias Blick ließ ihn die Augen aufschlagen. Erwartungsvoll
und unsicher sah er zu ihr hoch.
»Na,
was meinst du, kleiner Freund? Wollen wir mal nachsehen, ob Robert
Huntingdon ein Lügner ist?«, murmelte sie.
Der
Junge reagierte nicht, starrte sie nur weiter stumm an. Viktoria
wusste nicht, weshalb sie immer mehr das Gefühl bekam, dass er
durchaus begriff, worum es ihr ging. Es musste an seinem sehr
aufmerksamen Blick liegen. Ohne weiteres Zögern stand sie auf.
»Komm
mit. Du bist ein
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