Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
schlaues Kerlchen. Wenn du jemanden hörst, dann
gibst du mir Bescheid.«
Sie
hüllte sich in einen grellbunten, chinesischen Morgenmantel, den
Margaret ihr vermacht hatte. Dann schlüpfte sie in ihre
Pantoffeln und öffnete die Tür. Dewei folgte ihr stumm, als
sie sich vorsichtig durch das Dunkel tastete und Stufen hinabstieg,
um den vertrauten Weg zu Margarets Räumen einzuschlagen. Die
alte Dame hatte sicher Beruhigungsmittel erhalten. Selbst wenn sie
aufwachen sollte, würde sie Viktoria das nächtliche
Eindringen nicht übel nehmen. Nur durfte niemand anderer im Haus
etwas davon mitbekommen, denn sonst stand sie schon morgen mittellos
auf Shanghais Straßen. Viktoria verjagte die Angst, die ihr wie
ein Schatten hinterher schlich. Sie wollte wissen, ob es diesen Ring
gab, und wenn sie tagsüber nach ihm suchte, würde das
Margaret nur unnötig aufregen.
Vorsichtig
öffnete sie die Tür. Margarets Zimmer lag auf der
Straßenseite, sodass es vom Licht der Gaslampen erhellt wurde,
die zum Glück noch nicht gelöscht worden waren. Sie
erkannte die Umrisse einer friedlich schlafenden Gestalt, während
sie sich vorsichtig zur Kommode tastete. Dewei verharrte treu an
ihrer Seite, als sie erneut begann, die Schubladen des
Schmuckkästchens zu öffnen. Sie schob Ketten und Ringe zur
Seite, um das mit Seide überzogene Polster abzutasten. Im
untersten Fach spürte sie die rauen Formen von Nähten. Mit
vor Aufregung zitternden Händen zog Viktoria das Fach ganz
heraus, ließ seinen Inhalt in ihre linke Hand gleiten. Wenn
jetzt jemand hereinkam und sie ertappte, dann galt sie als Diebin und
konnte froh sein, ohne Anzeige entlassen zu werden. Ihr Herz raste
vor Angst, aber sie vermochte so kurz vor dem Ziel nicht aufzugeben.
Ungeduldig
riss sie an der Seide, nahm schließlich die scharfe Kante eines
Ohrrings zu Hilfe. Der Stoff gab endlich nach. Sie ließ ihre
Finger in weiches Polster gleiten, spürte Papier und zog ein
zusammengefaltetes Blatt hervor, das sie auf der Kommode ablegte.
Dann tastete sie weiter, bis sie auf die runde Form eines kleinen,
harten Gegenstandes stieß.
Das
berauschende Gefühl von Triumph schwemmte alle Angst hinweg. Der
Fund war mit weiterem Papier umhüllt, das sie so schnell wie
möglich entfaltete. Ein schlichtes Schmuckstück tauchte auf
und entglitt ihren unruhigen Fingern. Viktoria stockte der Atem, doch
zum Glück war der Aufprall kaum zu hören. Noch bevor sie
begonnen hatte, den Boden abzutasten, hielt Dewei ihr auch schon den
Ring entgegen.
»Braver
Junge«, flüsterte sie und steckte sich den Ring an den
Finger, um ihn nicht wieder zu verlieren. Er saß sehr locker,
musste entweder für eine Frau mit breiten Händen oder für
einen Mann angefertigt worden sein. Mit ihrem Daumen strich sie über
glattes, kühles Material, auf dem sie nur ein paar Gravuren
spürte. Es war zu dunkel, um mehr zu erkennen.
Viktoria
eilte mit ihren Funden zum Fenster, wohin der treue Dewei ihr folgte.
Sie bemerkte Unruhe in seinem Blick, achtete aber nicht darauf.
Entschlossen schob sie die Vorhänge ein Stück zur Seite. Im
Licht der Straßenlaternen erkannte sie ein Schmuckstück
aus Jade, in das Blumen eingeritzt waren. Es schien ihr hübsch,
doch nicht außergewöhnlich. Dann entfaltete sie das
zuallererst gefundene Papier, erblickte die schwungvollen,
harmonischen Formen chinesischer Schriftzüge. Die untere Hälfte
des Blattes war zackig, als hätte jemand ein Stück
abgerissen. Schließlich kam ihr die Idee, auch einen Blick auf
das Papier zu werfen, in das der Ring eingewickelt gewesen war. Es
war ebenfalls mit chinesischen Schriftzeichen bedeckt, doch wirkten
diese gleichmäßiger und breiter, als seien sie mit einem
Stempel gedruckt worden.
Ratlos
wandte sie sich an Dewei.
»Kannst
du damit etwas anfangen? Was steht dort geschrieben?«
Er
sah gehorsam auf die zwei Blätter. Der erste, längere Text
schien auch ihm unverständlich, doch beim Anblick des Stempels
riss er erschrocken die Augen auf. Ein Schwall chinesischer Worte
quoll aus seinem Mund. Viktoria fuhr zusammen. Sie durften sich nicht
laut unterhalten. Dewei duckte sich unter ihrem vorwurfsvollen Blick.
Eine Weile standen sie beide völlig still, hörten jedoch
nichts außer ihren eigenen, angstvollen Atemzügen.
»Was
steht denn da? Warum regst du dich so auf?«, flüsterte
Viktoria schließlich, ohne wirklich eine verständliche
Antwort zu
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