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Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)

Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)

Titel: Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tereza Vanek
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dünn, nur ein paar
Karotten und Nudeln schwammen verloren in einer Flüssigkeit, die
nach ranzigem Fett stank. Viktoria rief sich die verhungerten
Gestalten in der Chinesenstadt in Erinnerung. Sie wären dankbar
gewesen für solche Nahrung. Ihr eigener, verwöhnter
Geschmack war kein Maßstab. Doch da war noch etwas Anderes, das
störte und Unbehagen weckte. Etwas, das hätte da sein
müssen, aber fehlte. Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen,
dass es die gespenstische Stille war. Da saßen zahlreiche
Kinder zusammen, doch sie hörte kein Tuscheln, kein Lachen, nur
verhaltene Schlürfgeräusche. Mit einem flauen Gefühl
im Magen ließ sie ihren Blick durch den Raum streifen. Am
Kopfende stand ein Pult, auf dem ein Rohrstock lag. Einige schwarz
gekleidete Frauen, die Fotografien von Miss Newton hätten sein
können, schritten hinter den Kindern auf und ab.
         Viktoria
trat einen Schritt zurück. Obwohl sie kein Korsett trug,
schnürte ein Gefühl von Enge plötzlich ihren Brustkorb
zusammen, und sie musste mühsam nach Luft schnappen. Wurden hier
wirklich Seelen gerettet? Die Atmosphäre schien ihr so
erdrückend, dass sie fürchtete, ihre eigene Seele würde
an einem solchen Ort auf Dauer verkümmern.
         Sie
zwang sich, ruhig zu atmen. In europäischen Waisenhäusern
ging es sicher nicht anders zu. Sie selbst war schon als Kind
verwöhnt worden, wie ihr immer wieder bewiesen wurde. Vielleicht
war es besser, eine härtere Kindheit zu haben, denn so lernte
man das Leben zu ertragen.
         Miss
Newton führte Dewei zu einem leeren Stuhl, wo er sich gehorsam
hinsetzte. Eine Schüssel wurde in seine Richtung geschoben, doch
er füllte seinen Teller nicht, sondern starrte nur stumm auf die
hölzerne Tischfläche.
         Viktoria
drehte sich um. Sie musste nun gehen. Dewei schien nicht empfänglich
für Abschiedsworte.
         »Ich
danke Ihnen, dass Sie den Jungen aufnehmen«, sagte sie schnell
zu Miss Newton und eilte hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten. Sobald
die Eingangstür hinter ihr zugefallen war, fiel ihr das Atmen
leichter. Vor ihr lag Shanghai mit seinen europäischen und
chinesischen Bauten, die zu eigenartigen Mischformen zusammenwuchsen.
Das Brüllen, das Schubsen, das stete Feilschen und der
eindringliche, scharfe Geruch der Garküchen. Dewei hatte ihr
dabei geholfen, sich weniger fremd zu fühlen, doch jetzt war sie
wieder allein. Sie stieg die Stufen hinab. Sollte sie laufen oder
eine Jinrikscha nehmen? Ohne eine Entscheidung fällen zu können,
stand sie wie festgewachsen da.
         Wieder
fühlte sie den Druck eines Korsetts, das sie nicht trug. Tränen
überschwemmten ihre Wangen, die sie entschlossen trocken
wischte.
         Dewei
hatte sie angelächelt und ihretwegen versucht, englisch zu
reden. Er hatte ihr vertraut.
    Viktoria
drehte sich auf dem Absatz um und lief zurück ins Waisenhaus.
Sie rauschte an drei oder vier Miss Newtons vorbei, die sie verblüfft
anstarrten. Dann packte sie im Speisesaal Deweis Arm.
         »Wir
gehen wieder. Ich fürchte, es gefällt uns hier nicht«,
meinte sie zu niemand Bestimmten und lief hinaus. Dewei folgte
widerstandslos. Sobald sie wieder auf der Straße standen, blieb
Viktoria stehen. Sie hatte das unsichtbare Korsett abgeschüttelt,
doch nun schnaufte sie vor Aufregung, während sie den Weg zur
Nanking Road einschlug.
         »Du
willst nicht, dass sie mich töten?«, hörte sie Deweis
Stimme und blieb fassungslos stehen.
         »Sie
hätten dich nicht getötet. Wie kommst du darauf?«
         Sein
Gesicht bekam wieder Leben. Sie hatte diesen Blick schon öfter
an ihm gesehen, wenn sie in seinen Augen dumme Fragen gestellt hatte.
         »Ihr
weiße Geister, töten und essen Kinder«, erklärte
er todernst. »Aber du willst mich nicht töten. Pópo,
alte Frau, auch nicht. Sie nett, wie meine Nǎinai.«
         Viktoria
schüttelte verwirrt den Kopf.
         »Niemand
wollte dich töten. Auch die Missionarinnen nicht. Bei denen
hättest du es allemal besser gehabt, als bei … bei dem
Mann, wo du vorher warst.«
         Dewei
sah sie verwirrt an. Seine Welt schien etwas durcheinander geraten zu
sein. Viktoria wurde klar, dass er an Todesangst gelitten haben
musste, als sie ihn ins Waisenhaus schleppte. Was hatte diese
gottverdammte Amah ihm bloß erzählt? Beruhigend drückte
sie die Finger seiner Hand. Sie staunte über die Welle von
Glück, die durch ihren Arm floss, als er diesen Druck erwiderte.
        

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