Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
einem mit rotem Samt bezogenen Sessel Platz
genommen hatte, ohne Viktoria ebenfalls zum Sitzen aufzufordern.
»Mein Mann hatte mit Ihnen vereinbart, dass dieser chinesische
Junge zwei Wochen bei uns bleiben darf. Diese Zeit ist nun vorbei.«
Viktorias
Knie wurden schwach und sie sank ohne Erlaubnis auf einen Stuhl. Ja,
sie hatte damals zugestimmt, doch wie hatte sie ahnen können,
dass ein fremdes Kind ihr derart ans Herz wachsen würde?
»Aber
… aber«, stammelte sie ratlos. »Er fällt doch
niemandem zu Last.«
Emily
seufzte.
»Er
muss durchgefüttert werden und bringt keinerlei Nutzen. Miss
Virchow, er ist ein chinesisches Kind. Er braucht eine Erziehung, die
seiner Mentalität entspricht, um auf den rechten Weg gebracht zu
werden. Die Missionen sind dafür hervorragend geeignet, denn sie
haben Erfahrung im Umgang mit Chinesen. Ich habe mich bereits
umgehört. Ein Waisenhaus in der Nähe ist bereit, ihn
aufzunehmen. Er wird heute noch dort hingebracht werden. Das müssen
Sie natürlich nicht selbst tun, wenn es Ihnen schwerfällt.«
Die
Hausherrin hob resolut das Kinn. Viktoria fuhr empört auf, aber
eine Stimme in ihrem Kopf flüsterte, dass sie auf verlorenem
Posten kämpfte. Sie brauchte diese Anstellung bei den
Huntingdons. Nachdem sie durch die Ausflüge mit Dewei allmählich
Freude an ihrem Leben in Shanghai gefunden hatte, trieb die neue
Erkenntnis ihrer Machtlosigkeit ihr nun Tränen in die Augen
»Ich
werde ihn selbst hinbringen«, murmelte sie leise und stand dann
schnell auf, um dem Anblick von Emilys verbissenem Gesicht zu
entkommen.
******
Sie
nahm nicht die Jinrikscha, denn sie brauchte Zeit, um Dewei alles zu
erklären und zu versprechen, dass sie ihn regelmäßig
besuchen würde, doch ihre Worte prallten gegen eine Mauer des
Schweigens. Die Amah musste bereits mit ihm gesprochen haben, denn er
stellte keinerlei Fragen, vermied es aber, Viktoria anzusehen. Als
sie sich zu ihm wandte, war sein Blick so misstrauisch und
verschlossen wie an jenem Tag, da er sie in die Hand gebissen hatte.
Schicksalsergeben lief er neben ihr her, als sei sie nichts weiter
als eine Fremde, die ihn in eine ungewisse Zukunft schleppte.
Das
Waisenhaus war ein großes, blitzsauberes Gebäude. Viktoria
blieb vor der Eingangstür kurz stehen und atmete tief durch. Es
ging nicht anders.
Eine
Frau in hochgeschlossenem schwarzem Kleid begrüßte sie.
Ihr Gesicht wirkte durchaus freundlich, sodass Viktoria Hoffnung
schöpfte. Vielleicht war es das Beste für Dewei, mit
anderen chinesischen Kindern aufzuwachsen.
»Ich
bin Jane Newton. Mrs. Huntingdon hat bereits mit mir gesprochen. Es
war sehr edel von Ihnen, einen kleinen Jungen aus der Sklaverei zu
befreien und ihn vor allen Verderbtheiten zu bewahren, die seine
Kultur für ihn bereithält«, meinte die Missionarin
lächelnd. Viktoria nickte brav. Jane Newton inspizierte Dewei
mit einem kritischen Blick.
»Er
sieht durchaus sauber aus. Keine Läuse mehr, wie ich vermute.«
Sie
ließ ihre Hand rasch durch Deweis Haar fahren, der unter der
Berührung ängstlich zusammenzuckte.
»Gut,
wir müssen ihn nicht scheren und mit Petroleum einreiben. Er
kann gleich zu den anderen Kindern, die gerade im Speisesaal sitzen.
Haben Sie ihm schon einige Gebete beigebracht?«
Viktoria
schüttelte den Kopf.
»Das
müssen wir dann wohl machen«, meinte Jane Newton leicht
missmutig. »Chinesen sind ein von Natur aus abergläubisches
und … und von niederen Instinkten geleitetes Volk. Es ist
unsere Aufgabe, ihre Seelen zu retten.«
Viktoria
wünschte sich plötzlich, dass Dewei nichts von der
Unterhaltung verstand.
»Kann
ich sein zukünftiges Zimmer sehen? Oder den Speisesaal?«
Miss
Newton musterte sie staunend.
»Die
Zimmer der Jungen sollen nicht von fremden Frauen betreten werden.
Sie müssen verstehen, Chinesen sind sehr … sehr anfällig
für Versuchungen. Aber wenn sie wollen, dann können Sie mit
in den Speisesaal kommen.«
Dewei
wurde Viktorias Hand entrissen und trabte widerstandslos hinter Miss
Newton her. Der Saal, den sie betraten, war ebenfalls blitzsauber.
Ein schlichtes Holzkreuz hing an der Wand. Reihen von Kindern in
dunklen Kitteln löffelten Suppe aus tönernen Schüsseln.
Viktoria vermisste den ihr mittlerweile vertrauten, scharfen Geruch
chinesischer Gewürze. Die Suppe war
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