Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
»Was
machen wir jetzt?«, fragte er nur.
»Wir
gehen zu den Huntingdons zurück«, erklärte Viktoria
und schritt entschlossen los. »Und wenn sie uns hinauswerfen,
dann … dann finden wir zusammen eine neue Bleibe.«
Dewei
trabte neben ihr durch die Menschenmenge, ohne ihre Hand loszulassen.
Viktoria
sprach mit Mrs. Huntingdon. Sie erklärte, dass sie selbst dem
Jungen alles beibringen konnte, was er im Waisenhaus lernen würde.
Und dass sie fortgehen würde, wenn man ihr nicht erlaubte, den
chinesischen Jungen zu behalten. Margaret hörte schweigend zu,
nickte und ließ dann Emily holen. Bei dieser Unterhaltung war
die Gesellschafterin nicht erwünscht, doch noch vor dem
Abendessen erfuhr Viktoria, dass Dewei bleiben durfte.
Zum
ersten Mal, seitdem das Schicksal sich unerwartet gegen sie gewandt
hatte, meinte sie, ihm einen kleinen Sieg abgetrotzt zu haben.
******
Es
gab ihn tatsächlich, den Winter in Shanghai. Der Schnee war
meist mit Regen vermischt, doch nach der langen schwülen Hitze
schienen die kühleren Temperaturen ausgesprochen frostig.
Viktoria sah sich bald genötigt, ihren Paletot aus den Tiefen
ihres Koffers hervorzuholen, da Anette sich weiter mit Nathan traf.
Das europäische Neujahrsfest verbrachten die Huntingdons
zusammen mit einigen anderen ansässigen Geschäftsleuten.
Viktoria war nur ein geduldeter Gast, um Margaret zu unterhalten.
Doch im Februar sollte das chinesische Fest stattfinden. Aus diesem
Anlass ließ die Amah erneut einen gründlichen Hausputz
durchführen. Dewei erzählte Viktoria, dass die Dienstboten
vor den Statuen des Küchengottes Reis opferten, damit er nur
Positives über das Haus berichtete, wenn er wie jedes Jahr zum
himmlischen Jadekaiser aufstieg. Shikai besorgte dem Jungen ein
langärmliges Hemd und eine Hose aus Baumwolle sowie eine
gefütterte, chinesische Jacke für die kalten Tage. Auch
Viktoria wurde von beiden Chinesen vorgeschlagen, sich neu
einzukleiden, da dies ein Teil ihrer Tradition zum neuen Jahr war.
Sie folgte bereitwillig dem Rat, denn sie besaß nur ein
einziges warmes Kleid und erhielt von Nathan immer noch genug
Schweigegelder, um sich mehr zu erlauben. Ein Ausflug zu einem
ansässigen britischen Schneider ermöglichte ihr ein
schlichtes, flaschengrünes Winterkleid aus dickem Leinen. An dem
Tag, da die chinesischen Feierlichkeiten begannen, überreichte
Dewei ihr mit strahlendem Lächeln eine Kette aus grünen
Jadeperlen und dazu passende Armreifen. Sie wusste nicht, woher er
diese Schätze bezogen hatte, hielt sie für mögliches
Diebesgut, doch nahm sie das Geschenk ohne Fragen an, um ihn nicht zu
verletzen. Sie würde später Shikai zur Rede stellen. Der
Schmuck passte zum neuen Kleid, und Viktoria war nach langer Zeit
endlich wieder zufrieden mit ihrer äußeren Erscheinung,
als sie gemeinsam mit Dewei loszog, um Anette Desmoulins abzuholen.
Ein Ausflug zu den chinesischen Festlichkeiten war geplant, doch
mussten sie vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein.
Nathan
wartete diesmal vor dem Gebäude der Oriental Bank am Hafen. Auf
dem Huangpu glitten hell erleuchtete Papierdrachen vorbei. Die
Laternen an den Hauswänden hatten sich plötzlich vermehrt
und waren jetzt mit Schriftzeichen bemalt. Viktoria staunte, dass
noch mehr Menschen auf den Straßen Platz finden konnten als
gewöhnlich. Überall wurde geschubst, geschrien, gesungen
und gelacht. Die ausgelassene Menschenmenge wirkte ansteckend, denn
anders als bei dem Fest der Huntingdons war Viktoria plötzlich
in Feierstimmung. Sie beschloss, auch Shikai zu einem chinesischen
Essen einzuladen, sobald Nathan und Anette sich verabschiedet hatten.
»Es
freut mich, die Damen zu begrüßen. In China beginnt nun,
im Februar 1883, das Jahr der Wasserziege. Wer in diesem Jahr zur
Welt kommt, wird angeblich ein künstlerisch begabter,
einfühlsamer, aber auch etwas chaotischer Mensch sein«,
erklärte Nathan mit einem höflichen Kopfnicken. Viktoria
hielt dies für netten Aberglauben, doch staunte sie wieder
einmal über Nathans Kenntnisse der chinesischen Kultur. Sie
hätte gern mehr erfahren, wusste aber, dass ihre Anwesenheit
nicht lange erwünscht war. Nathan und Anette hofften vermutlich,
in diesem Getümmel unbemerkt herumspazieren zu können. Sie
würde mit Dewei dasselbe versuchen.
»Es
wäre mir eine Ehre, Sie und ihren kleinen chinesischen Freund
heute in ein Teehaus einzuladen«, fuhr Nathan zu
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