Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
ihrem
Erstaunen fort. Anette lächelte Viktoria strahlend an.
»Ja
bitte, Sie haben so viel für uns getan«, drängte sie
sogleich. Viktoria stimmte zu, überreichte Shikai wieder zwei
Dollar und bat ihn, bei Einbruch der Dämmerung vor dem
Bankgebäude zu warten.
Eine
Weile drängelten sie sich durch die Massen, hielten sich an den
Händen fest, um einander nicht zu verlieren. Straßenhändler
priesen schreiend fertig gekochtes Essen und rote, mit goldenen
Schriftzeichen verzierte Gehänge an, die angeblich Glück
bringen sollten. Trotz des allgemeinen Platzmangels fanden an allen
Ecken irgendwelche Darbietungen statt. Grellbunte Löwenmasken
mit Kulleraugen, in denen mehrere Menschen steckten, schüttelten
sich und zuckten zum schrillen Schlag von Gongs. Das Kreischen
chinesischer Lieder betäubte Viktorias Ohren. Sie war fast
erleichtert, als sie ein hölzernes Gebäude betraten, wo
zahlreiche Chinesen in irgendein Glücksspiel vertieft waren und
dabei leider herumbrüllten, wie es eben ihre Art war. Nathan
führte sie zu einem freien Tisch.
Ein
junger Mann mit langem Zopf verteilte Tassen, in denen bereits
Teeblätter lagen. Dann hob er eine silberne Kanne, um einen
Wasserstrahl in elegantem Bogen auf die Teeblätter zu gießen.
Nathan schob ihm eine Münze zu und er entfernte sich mit einer
Verbeugung.
»Wir
sind Ihnen beide sehr verbunden, Miss Virchow«, begann Nathan
das Gespräch. »Ich hoffe, Sie sind bereit, ein Geschenk
von uns anzunehmen.«
Er
überreichte Viktoria einen Umschlag, in dem weitere
Dollarscheine steckten. Sie nahm das Geschenk dankbar an, obwohl ihr
bewusst wurde, dass dies die Art war, wie sie selbst Shikai
behandelte. Dabei wollte sie sich gern als Anettes Freundin sehen,
nicht als Bedienstete.
»Es
freut mich, Ihre geheimen Treffen ermöglicht zu haben«,
meinte sie vorsichtig. »Doch sollten Sie die Augen nicht vor
der Wirklichkeit verschließen. Sie können sich nicht bis
in alle Ewigkeit immer wieder heimlich treffen.«
Anette
begann aus unerfindlichen Gründen glücklich zu strahlen.
Nathan nickte kurz.
»Anette
Desmoulins ist das Mädchen, das ich heiraten möchte. Und
niemand außer ihr selbst kann mich daran hindern«,
erklärte er völlig sachlich. Viktoria nahm dies mit einem
leichten Schulterzucken zur Kenntnis. Männer versprachen viel.
Aber was würde Nathan wohl tun, wenn ihm die Enterbung drohte?
Leider waren Viktorias Ermahnungen zur Vorsicht bisher an Anettes
verträumtem Gesichtsausdruck abgeprallt. Sie bemerkte, dass die
Französin etwas abgenommen hatte. Mit dem weichen, aber weniger
runden Gesicht sah sie durchaus hübsch aus. Viktoria fielen die
ersten Monate nach ihrer Begegnung mit Anton ein, als eine Sehnsucht
von bisher ungekannter Heftigkeit ihren Appetit völlig verdrängt
hatte. In jener Zeit hatte sie sich schöner gefühlt als
jemals zuvor in ihrem Leben. Es überraschte sie, wie sehr diese
Erinnerung immer noch schmerzte. Rasch wandte sie den Blick von dem
Liebespaar ab, das nun miteinander tuschelte, ohne sie zu beachten.
In
dem Teehaus stand eine Tribüne, auf der plötzlich zwei
Schauspieler mit Dämonenmasken erschienen. Zum Schlag der Gongs,
der sich immer mehr beschleunigte, um schließlich als schrilles
Dröhnen in Viktorias Ohren zu stechen, schwangen sie Stöcke
und simulierten einen Kampf, bei dem sie wendig herumsprangen, um
jedem Angriff auszuweichen. Der Größere von ihnen schien
besonders geschickt. Er berührte nur für den Bruchteil
einer Sekunde mit seinen Füßen den Boden, um gleich wieder
hochzufliegen und in der Luft Purzelbäume zu schlagen, als könne
er mühelos das Gesetz der Schwerkraft widerlegen. Viktoria
starrte, fasziniert von der katzenhaften Geschmeidigkeit seiner
Bewegungen. Doch geschah ihm plötzlich ein Missgeschick, wie es
Aufschneider wohl immer wieder ereilt. Nachdem er sich schwungvoll in
Handständen überschlagen hatte, geriet plötzlich die
Maske ins Rutschen und glitt zu Boden, um das schmale, scharf
geschnittene Gesicht eines jungen Mannes freizugeben. Eine Flut
blauschwarzen Haares ergoss sich über seine Schultern. Jede Frau
hätte ihn um diese Pracht beneidet, doch durch die Menge der
anwesenden Chinesen ging ein entsetztes Raunen. Viktoria meinte, im
Hintergrund wieder ein vertrautes Wort in der fremden Sprache zu
hören: Taiping.
Auf
einer Balustrade oberhalb der Tribüne tauchte die schmale
Gestalt einer
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