Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
zahlreichen Schiffen und Booten, die auf dem
Huangpu schaukelten, raubte ihr die letzte Hoffnung, das entflohene
Liebespaar aufstöbern zu können. Vielleicht waren sie
bereits im Begriff, den Hafen zu verlassen.
»Mein
Gott«, murmelte sie auf Deutsch. »Worauf hat diese
verliebte Gans sich da bloß eingelassen?«
Verzweifelt
fuhr sie sich durchs Haar, schubste dadurch ungewollt die Kapuze
ihres Paletots zurück und löste ein paar Nadeln. Gelockte
blonde Strähnen fielen ihr in die Stirn und sie hob trotzig den
Kopf. Wie es den Chinesen doch immer wieder gelang, direktes Starren
zu vermeiden, obwohl ihre neugierigen Blicke so spürbar waren
wie eine Berührung! »Gafft doch so viel ihr wollt!«,
flüsterte sie bissig vor sich hin.
Dann
sah sie plötzlich den Kampfkünstler aus dem Teehaus. Er
stand ein Stück von ihr entfernt und stierte mit sehr
unchinesischer, fast unverschämter Deutlichkeit über die
Köpfe kleinerer Landsleute hinweg. In seinem Blick lagen weder
Belustigung noch Ablehnung, wie sie es in Shanghai oft erlebt hatte,
sondern schlichte Neugier. Sobald Viktoria das Starren trotzig
erwiderte, schlug er die Augen nieder, als sei ihm die
Ungebührlichkeit seines Verhaltens bewusst geworden. Ohne einen
klaren Grund trat Viktoria einen Schritt näher, denn plötzlich
hatte die Menschenmenge Platz gemacht. Sie musterte das schmale,
scharf geschnittene Gesicht, dessen Züge aristokratisch
schienen. Er hatte hohe Wangenknochen und überaus asiatische,
elegant geschwungene Augen in Mandelform. Sein langes, offenbar als
anstößig empfundenes Haar war hinter einem Tuch verborgen,
das er im Nacken verknotet hatte. Statt des grellbunten
Dämonenkostüms trug er nun eine schwarze chinesische Jacke,
die mit schräg aufgenähten Verschlüssen versehen war.
Ein fast vergessener Mechanismus kam in Viktorias Kopf in Gang. Einst
war sie ein begehrtes Mädchen gewesen, das Männer schon bei
der ersten Begegnung danach beurteilte, ob sie ihrer Aufmerksamkeit
wert schienen. Obwohl dieser Mann nichts weiter war als ein
geschickter Jahrmarktgaukler, empfand sie plötzlich das
Verlangen, ihn näher kennenzulernen, um festzustellen, wie fremd
und anders ein Chinese wirklich war.
Der
Gaukler hob nochmals seinen Blick, um ihr ebenfalls ins Gesicht zu
sehen. Wieder erkannte sie Neugier in seinen Augen, doch diesmal
starrte er nicht mehr dreist, sondern zaghaft und etwas verlegen.
Zu
ihrem Entsetzen spürte Viktoria, wie ein beschleunigter
Herzschlag ihr das Blut ins Gesicht jagte. Die meisten Chinesen
hatten eine etwas dunklere Haut und liefen vermutlich nicht so
schnell rot an. Wie albern musste sie aussehen mit einem Kopf, der
einer Tomate glich!
»Schau
mal, Vi Ki. Da ist ein Sedanstuhl für vornehme Leute«,
riss Dewei sie aus ihren Gedanken. Viktoria drehte sich um und
begriff, warum die Menschenmenge Platz gemacht hatte. Vier Träger
hatten eine chinesische Sänfte auf der Straße abgestellt.
Sie erkannte die elegante, zarte Gestalt der Teehausbesitzerin, die
gerade im Begriff war, sie zu besteigen. Kurz wandte Shen Akeu den
Kopf, und wieder schossen scharfe, chinesische Worte aus ihrem rot
bemalten Mund. Der Kampfkünstler kam sogleich auf sie zu. Beide
verschwanden hinter dem Vorhang der Sänfte, die von vier Trägern
in die Höhe gestemmt und davongetragen wurde.
Viktoria
hörte chinesische Worte im Hintergrund. Gelächter erklang.
»Was
haben die Leute gesagt?«, wandte sie sich neugierig an Dewei.
Er sah kurz verlegen aus und meinte, die Leute aus Shanghai kaum
verstehen zu können.
»Aber
du redest doch mittlerweile ganz fließend mit Shikai«,
bohrte Viktoria nach. Deweis Gesicht verzog sich in der Erkenntnis,
bei einer Ausrede ertappt worden zu sein.
»Das
war Gerede von Männern«, meinte er nur.
»Und
was redeten die Männern so?«
Er
zögerte einen Moment, dann gab er nach.
»Shen
Akeu hat sich früher an alte, reiche Männer verkauft. Jetzt
ist sie selbst alt und reich. Und kauft sich junge Männer.«
Viktoria
verstand nicht, warum Ärger in ihrem Magen kribbelte. Die Worte
der Missionarin über die Verderbtheit der chinesischen Kultur
fielen ihr wieder ein und schienen mit einem Mal treffend. Bekam eine
Hure denn niemals genug?
»Wir
gehen jetzt zu Shikai«, meinte sie entschlossen und lief los.
Während sie sich durch die Menge drängelte, schwand ihr
Unmut
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