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Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)

Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)

Titel: Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tereza Vanek
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Tiefen zu versinken. Viktoria räkelte
sich zufrieden. Dewei stand eine Weile unschlüssig herum.
Schließlich legte er sich auf den Boden.
         »Jetzt
komm schon zu mir. Du bist doch kein Hund«, murmelte Viktoria
mit halb geschlossenen Lidern. Er gehorchte nach kurzem Zögern,
kroch unter die Kamelhaardecke und schmiegte sich an ihren Rücken.
Leise murmelte er ein Wort, das in allen Sprachen der Welt wohl
ähnlich klang: »Ma«. Viktoria wälzte sich herum
und legte ihren Arm um seine schmalen Schultern. Warum hatte ihre
eigene Mutter ihr niemals das Gefühl vermittelt, dass Kinder
Freude machen konnten?

    ******

         Am
nächsten Tag wurde sie im ersten Morgengrauen von lautem Gerede
im unteren Raum geweckt. Erschöpft rieb sie ihre Schläfen,
hinter denen leichter Kopfschmerz pochte. Der schwere, süße
Wein war ihr nicht bekommen. Sie zog die Decke über ihren Kopf,
um wieder in den Schlaf zu flüchten, doch bald darauf erklangen
Schritte vor der Tür. Hua brachte erneut ein Tablett herein.
Auch zum Frühstück wurde Suppe serviert. Außerdem
schwamm in zwei großen Bechern eine weiße Flüssigkeit,
die wie Milch aussah, doch als Viktoria daran nippte, machte ein
unbekannter, eigenartiger Geschmack sich auf ihrer Zunge breit. Sie
verzog angewidert das Gesicht.
         »Trink.
Dòujiāng. Es ist gesund«, forderte Dewei sie
hartnäckig auf. Nach ein paar Schlucken wurde das Getränk
erträglicher und begann beinahe erfrischend zu schmecken.
Viktoria machte sich daran, ihre Suppe zu löffeln, denn sie
brauchte einen vollen Magen für die Reise. Ihr Gaumen sehnte
sich nach weichem, frischem Brot, Butter und Käse, nach dem
vertrauten Frühstücksei und vor allem nach einer Tasse
Kaffee, die ihre Lebensgeister in Schwung gebracht hätte. Doch
fehlte ihr die Zeit, Margarets Kaffeemühle in Gang zu bringen.
         Widerwillig
sah Viktoria ein, dass sie sich an fremde Nahrung würde gewöhnen
müssen. Die Suppe schmeckte nicht übel, doch wäre sie
ihr als Mittagsmahl lieber gewesen.
         Danach
wurden ein Eimer Wasser und Seife hereingebracht, die sogar angenehm
duftete. Nachdem Viktoria sich gewaschen und rasch angekleidet hatte,
verstand Dewei zum Glück eine zaghafte Andeutung und sorgte für
das Auftauchen eines breiten tönernen Topfs. Er verließ
taktvoll das Zimmer, als Viktoria ihre Röcke raffte und sich
niederhockte. Danach benutzte er ihn selbst, ohne sich an ihrer
Gegenwart zu stören. Sie verdrängte das missbilligende
Gesicht ihrer Mutter aus ihrer Erinnerung.

    ******

         Viktoria
gewöhnte sich an die wechselnden Herbergen, das fremde Essen und
das Starren, sobald sie der Sänfte entstieg. Das Land schien so
unermesslich groß, dass ihr manchmal fast schwindelig wurde,
wenn ihr Blick sich wieder einmal in der Ferne des Horizonts verlor.
Als Stadtmensch hatte sie sich in Shanghai schnell eingelebt, doch
hier fühlte sie sich winzig und unbedeutend wie ein Kieselstein,
der in einen Ozean gefallen war. Obwohl sie sich dem Zauber zackiger
Felsen und blühender Bäume, die wie mit feinen
Pinselstrichen gezeichnet schienen, nicht entziehen konnte,
erleichterte es sie, dass immer wieder Zeichen menschlicher
Besiedelung auftauchten. Kleine Städte und mit der Landschaft
verwachsene Pagoden zogen an ihr vorbei. Die kunstvollen Bauwerke
glichen einander, waren allesamt von feiner, graziler Architektur,
die Harmonie und Leichtigkeit zum Ausdruck brachte. Dachgiebel wiesen
himmelwärts, als wollten sie den Blick fort von allem Elend
dieses Landes führen, das dennoch nicht zu übersehen war.
Auch inmitten der malerischen Landschaft lagen manchmal halb verweste
Leichname. Ausgemergelte Gestalten machten Viktorias Sänfte
ehrerbietig Platz. Sie fragte sich, was die bewaffneten Männer
wohl andernfalls mit ihnen angestellt hätten.
         Unterwegs
las sie mit Dewei Dickens, ließ ihn auf einem Blatt Papier das
Schreiben üben und prägte sich weiter chinesische Worte
ein. Mittlerweile konnte sie problemlos grüßen, Dank sagen
und sich verabschieden, doch auf Dauer würde das nicht genügen.
Beim Verlassen der Sänfte fühlte sie sich stets wie eine
zur Schau gestellte, seltene Tierart. Die erwachsenen Chinesen
versuchten, ihr Starren so unauffällig wie möglich zu
gestalten, doch fehlte Kindern, wie wohl überall auf der Welt,
derartige Zurückhaltung. Viktorias Auftauchen ließ sie
sofort herbeieilen, als sei ein unbekanntes Kennwort geflüstert
worden, das alle Halbwüchsigen

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