Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
geordneten
Welt in den Höfen von Lao Tengfeis Behausung. Fast hätte
sie vergessen, wie elend manche Chinesen aussahen und wie ungehobelt
sie sich im tagtäglichen Überlebenskampf manchmal benahmen.
Die westlichen Gesandtschaftsgebäude lagen in unmittelbarer Nähe
jener riesigen, von einem Kanal und dicken Mauern umgebenen Bauten,
die von der kaiserlichen Familie bewohnt wurden und deren Betreten
gewöhnlichen Sterblichen untersagt war. Sie wurde über
einen der Ärmel des Kanals getragen und dann ging es eine Straße
entlang, die tatsächlich etwas europäisch wirkte, denn sie
wurde von steinernen, mehrstöckigen Bauten eingesäumt.
Viktoria konnte sogar eine Kirche entdecken und fühlte sich für
einen Augenblick wie an die internationale Siedlung Shanghais
erinnert. Schließlich kam die Sänfte vor einem dieser
Häuser zum Stillstand. Seine hohe, verputzte Fassade weckte
Erinnerungen, eine Mischung aus Sehnsucht, Wehmut und Bitterkeit, die
Viktoria aus einem früheren Leben mitgenommen hatte. Dennoch tat
es wohl, nach Wochen in der Fremde wieder Vertrautes zu sehen. Ein
chinesischer Diener verneigte sich vor Viktoria und führte sie
dann ins erste Stockwerk. Sie spürte die Weichheit eines dicken
Teppichs unter ihren Füßen. Zudem war ihr ein kristallener
Lüster im Eingangsraum aufgefallen. Wieder bohrte sich eine
Nadel in ihr Herz, denn so edel hatte sie selbst einst gelebt. Der
Diener öffnete eine Tür, hinter der sich chinesische Möbel
und Vasen verbargen. Ein großer, stattlicher Mann mit
aschblondem Haar stand auf.
Viktorias
erster Gedanke war, dass der deutsche Gesandte wie ein geborener
Sieger aussah. Das Bewusstsein des Erfolges lag in der aufrechten
Haltung seines stattlichen Körpers, dem tadellos gestutzten
Backenbart, spiegelte sich in den blank polierten Knöpfen der
preußischen Offiziersuniform.
»Max
von Brandt. Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen,
Fräulein Virchow«, meinte er mit einer knappen, aber
schwungvollen Verbeugung. Viktorias Hand streckte sich ihm wie von
selbst entgegen. Sie erhielt den erwarteten, kaum spürbaren
Kuss. Max von Brandt hatte tadellose Manieren.
»Sie
sind eine ungewöhnlich mutige junge Dame, die einen wichtigen
Beitrag leisten will, um Deutschland den Chinesen näherzubringen.
Unser Vaterland, ja ganz Europa, kann stolz auf Sie sein«,
meinte er mit völliger Selbstverständlichkeit, als er sie
zu einem gedeckten Tisch führte.
Viktorias
Verstand wertete die Schmeichelei als übertrieben, aber es kam
dennoch Freude in ihr auf. Wie lange hatte sie die Aufmerksamkeit
einflussreicher Männer missen müssen!
Sie
sank auf den Stuhl, den der Gesandte ihr anbot, und erblickte
vertraute Porzellantassen mit rosa Blumenmuster. Als der Diener
erschien, brachte er einen köstlichen Duft mit sich. Kaffee! Und
ein Kännchen mit Milch, die aus den Eutern von Kühen
stammen musste. Viktorias Herz tat einen Sprung.
Der
chinesische Diener schenkte das hierzulande fremde Getränk so
selbstverständlich ein, als hätte er niemals etwas anderes
getan. Kurz darauf wurde ein mit Schokolade überbackener
Marmorkuchen serviert und ein Schälchen abgestellt, auf dem
kleine weiße Türme aus frisch geschlagener Sahne
emporragten. Viktoria spürte, wie sich der Speichel auf ihrer
Zunge sammelte. Ihr war bisher nicht wirklich bewusst gewesen, wie
sehr sie vertraute Speisen vermisst hatte. Nun griff sie mit einem
Appetit zu, den ihre Mutter als höchst undamenhaft bezeichnet
hätte.
»Nun,
Fräulein Virchow, ganz gleich, wie reizvoll das Fremde auch sein
mag, manchmal überkommt auch uns Diplomaten das sehnsüchtige
Verlangen nach dem Essen, das wir bereits aus Kindertagen kennen«,
kommentierte Max von Brandt mit einem nachsichtigen Lächeln ihr
Verhalten. Viktoria fühlte sich ertappt, war aber auch
erleichtert über so viel Verständnis.
»Wie
ich schon sagte, Sie sind mutig«, fuhr der Gesandte fort. »Sie
unterrichten nun Englisch, wie ich gehört habe. Aber es wäre
wichtig, auch unsere Muttersprache in China bekannter zu machen. Eine
charmante junge Dame wie Sie hier in China könnte unserer Nation
weitaus mehr helfen als viele der leider sehr störrischen, oft
ungeschickten Missionarinnen.«
Nun
ließ Viktoria die Kuchengabel sinken und fuhr sich rasch mit
einer Serviette über den Mund, denn mit Kuchenkrümeln auf
den Lippen wollte sie einem so schneidigen Mann
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