Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Sie machte eine ungeschickte Verbeugung. Viktoria
musterte ihr Gesicht eindringlicher und erkannte jenen verschleierten
Blick, den sie manchmal an Shikai gesehen hatte. Opium, dachte sie.
Lao
Tengfei rief nochmals in seiner Muttersprache, diesmal barscher und
lauter. Eine kleine, grazile, prächtig geschmückte Dame
antwortete klagend. Sie glich einer kunstvollen Porzellanfigur,
unfähig, sich selbst fortzubewegen. Zwei Dienerinnen eilten
sogleich an ihre Seite, um sie herbeizutragen.
»Meigui,
zweite Gemahlin«, stellte der Hausherr vor. Ein spitzes, feines
und liebliches Gesicht streckte sich Viktoria entgegen. Sie empfand
fast Ehrfurcht angesichts so viel zerbrechlicher Schönheit und
lächelte das zarte Wesen an. Wie schrecklich es doch sein
musste, ohne fremde Hilfe keinen Schritt tun zu können!
Die
erwartete Verbeugung blieb aus. In den zauberhaften Mandelaugen
erkannte Viktoria nur Härte, Widerwillen und Hohn. Mit schriller
Fistelstimme rief Meigui ein paar chinesische Worte. Viktoria hörte
leises Gekicher unter den Dienstboten und ahnte, dass gerade ein
Scherz auf ihre Kosten gemacht worden war.
Schweiß
sammelte sich in ihren Achselhöhlen, aber sie nickte der zweiten
Gemahlin so gelassen wie möglich zu. Als die Dienerinnen das
zerbrechliche, gehbehinderte Wesen wieder forttrugen, konnte Viktoria
etwas entspannter atmen. Sie sehnte sich nicht danach, Meigui zu
unterrichten, doch hoffte sie, mit der Zeit eine bessere Beziehung zu
ihr aufbauen zu können.
Jetzt
war die Begrüßung überstanden, dachte sie
erleichtert, aber dann fiel ihr ein, dass Lao Tengfei von drei
Gemahlinnen gesprochen hatte. Dem Hausherrn schien es ebenfalls
bewusst zu werden. Er blickte sich verärgert um und brüllte
wieder einen Befehl.
»Leider
dritte Gemahlin dumm«, meinte er in seinem schwer
verständlichen Englisch. »Vergessen Zeit und Pflicht. Aber
gleich hier.«
Viktoria
wartete schicksalsergeben, obwohl ihr Magen knurrte und sie sich nach
einem Bad und frischer Kleidung sehnte. Schließlich kam aus
einem der umliegenden, rot lackierten Holzhäuser eine kleine
Frau herbeigeeilt. Sie schien wesentlich flotter laufen zu können
als die zwei ersten Gemahlinnen. Ihre Füße wirkten fast
ausgewachsen, obwohl sie in den üblichen, bestickten
Seidenschuhen steckten. Ihre Jacke war falsch zugeknöpft. Aus
dem Haarknoten hatten sich Strähnen gelöst. Viktoria dachte
an ein zerzaustes, hektisch herumlaufendes Huhn. Die Nachzüglerin
vollführte ihre Verbeugung ohne Zögern, sah Viktoria dann
mit erstaunlicher Offenheit ins Gesicht. Wieder erblickte Viktoria
ein chinesisches Lächeln, das völlig ehrlich schien.
»Chuntian,
dritte Gemahlin«, wurde das hektische Wesen vorgestellt.
Chuntian
war beim besten Willen nicht hübsch zu nennen. Ihre Nase war
flach und breit, der Mund wirkte zu groß in dem schmalen,
kantigen Gesicht. Ihren Augen fehlte der elegante Schwung der
Mandelform, sie glichen engen, geraden Schlitzen, die sich in ihr
Gesicht gruben. Dennoch fand Viktoria den Anblick dieser Frau
erfrischend angenehm.
»Nun
haben alle gesehen. Meine Diener Ihnen zeigen, wo Sie wohnen. Danach
Sie hoffentlich erweisen mir die Ehre eines Besuches.«
Viktoria
bedankte sich erleichtert und fügte sogleich hinzu, dass sie
sich durch diese Einladung überaus geehrt fühlte.
Allerdings hätte sie den Tag lieber allein verbracht, um sich in
Ruhe an die neue Umgebung gewöhnen zu können. Höfliches
Benehmen bestand aus zahlreichen kleinen Lügen. Das hatte sie
schon als höhere Tochter in ihrer Heimat gelernt.
******
Sie
wurde zu einem jener rot lackierten Holzhäuser geführt, die
diesen Hof umgaben. Es enthielt nur einen einzigen Raum, der klein,
aber hübsch eingerichtet, und insgesamt wohnlicher war als das
winzige Zimmer, das die Huntingdons ihr gegönnt hatten. Ein
Tisch und zwei Stühle standen Viktoria zur Verfügung, zudem
ein von dünnen Papierwänden umgebenes Kastenbett. Es gab
eine Art Nachttisch neben dem Bett, wo vermutlich das Frühstück
serviert wurde. Viktoria scheuchte zwei beflissene Diener fuchtelnd
fort, denn sie sehnte sich nach einem Augenblick völliger Ruhe.
Mit einem Seufzer der Erleichterung sank sie auf einen der Stühle,
legte den Paletot ab und fuhr mit den Fingern über ihr Haar, in
dem sich einige Nadeln gelöst hatten. Vermutlich sah sie nicht
weniger zerzaust und schlampig aus als diese
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