Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Chuntian. In dem Wissen,
bald dem Hausherrn erneut gegenübertreten zu müssen, wandte
sie sich wieder einmal an Dewei.
»Wir
müssen baden. Sie sollen uns Wasser bringen. Und ich sterbe fast
vor Hunger, ich glaube, bald kippe ich um.«
Er
lief ohne Murren den verjagten Dienern hinterher, um eine Weile
später zurückzukehren.
»Gleich
kommt Wasser. Und ein Frühstück ist auch unterwegs.«
Dann
streckte er sich zufrieden auf dem Bett aus und ließ seinen
Blick durch den Raum wandern.
»Mein
Großvater soll auch ein reicher Mann gewesen sein. Vielleicht
lebte er ähnlich«, meinte er versonnen. Viktoria drehte
sich staunend um. Bisher hatte der Junge nie über seine Familie
gesprochen, und es war ihr angebracht erschienen, nicht durch Fragen
in langsam heilende Wunden zu stechen. Doch nun überwog die
Neugier.
»Wie
verlor dein Großvater denn all sein Geld, ich meine, sonst …
sonst wärest du noch bei deiner Familie.«
Dewei
begann die Decke des Bettkastens zu mustern.
»Opium«,
sagte er nur. Viktoria stieß einen Seufzer aus.
»Das
scheint wirklich eine Unart deiner Landsleute zu sein«, meinte
sie und staunte über Deweis empörten Blick.
»Es
heißt, deine Leute haben Opium zu uns gebracht«, meinte
er nur. Viktoria stieß ein Kichern aus.
»Aber
wie denn? Bei uns wächst es doch gar nicht. Das ist sicher so
ein Gerücht, wie dass wir angeblich chinesische Kinder essen.«
Sie
setzte sich zu ihm auf das Bett und spürte zufrieden die Wärme
seines Körpers in ihrem Rücken. Als junges Mädchen
hatte sie einen Schoßhund besessen, der ihr auf Schritt und
Tritt gefolgt war und sich bei jeder Gelegenheit an sie gekuschelt
hatte. Seit sie Dewei als ihr Kind bezeichnet hatte, verhielt er sich
ähnlich. Da sie ohne Brüder aufgewachsen war und Jungen
stets als freche, laute Wesen erlebt hatte, staunte sie, wie viel
Sehnsucht nach Zuneigung in einem heranwachsenden Mann steckte. Sie
drehte sich zu Dewei und fuhr mit ihren Fingern durch sein
erstaunlich dickes, seidenglattes Haar. Er legte seinen Kopf in ihren
Schoß, ohne das Thema Opium weiter zu verfolgen.
»Er
hat keine Söhne«, meinte er nur. Viktoria brauchte eine
Weile, um zu begreifen, von wem er sprach.
»Lao
Tengfei hat aber drei Töchter«, entgegnete sie. Ihrem
Vater hatte sie immer genügt.
»Er
will sicher Söhne«, beharrte Dewei. Viktoria fühlte
einen Stich von Ärger. Jungen hielten sich wohl immer für
wichtiger!
»Mit
drei Ehefrauen hat er genug Möglichkeiten«, erwiderte sie.
»Und dann wird er sehen, ob ihr Jungs wirklich besser seid als
Mädchen.«
Sie
lehnte sich zurück und schloss die Augen, um sich einen
Augenblick ausruhen zu können. Drei Ehefrauen, ging es ihr durch
den Kopf. Bisher hatte sie diese Eigenart der Chinesen als Teil ihrer
andersartigen Welt hingenommen, doch nun begann sie zu grübeln,
wie es wohl sein mochte, wenn drei Frauen sich einen Mann teilten.
Sie wusste, dass auch ihr Vater ihrer Mutter nicht treu gewesen war.
Und Anton … sie verjagte die schmerzhafte Erinnerung. Aber
wenigstens waren Ehefrau und Mätresse voneinander ferngehalten
worden, hatten von der Rivalin nur so viel erfahren, wie der Mann für
angemessen hielt. Sie fragte sich, wie Lao Tengfeis Frauen
miteinander umgingen, wo sie doch tagtäglich zusammenlebten?
Ein
zartes Klopfen an der Tür riss sie aus diesen Gedanken. In der
Hoffnung auf Nahrung für ihren knurrenden Magen rief Viktoria
»Herein!«. Erst dann wurde ihr bewusst, dass sie auf
Englisch gesprochen hatte.
Die
Tür öffnete sich trotzdem. Chuntians kantiges Gesicht schob
sich herein. Erst nach einigem Zögern folgte der schmale Körper
der dritten Gemahlin. Ihre Lippen bewegten sich eine Weile ratlos,
bevor endlich Worte aus ihrem Mund drangen.
»Mir
tut leid, dass ich war zu spät.«
Obwohl
sie sehr leise sprach, war sie leichter zu verstehen als ihr Mann.
Viktoria richtete sich verwirrt auf.
»Ach
was, das kommt vor. Es war kein Problem«, versicherte sie. Ob
Chuntian sie verstand, konnte sie nicht einschätzen. Die
Chinesin stand weiter verlegen herum.
»Ich
hoffe, es wird Ihnen bei uns gefallen«, meinte sie dann etwas
lauter und sicherer. Viktoria lächelte.
»Sie
können ja schon Englisch! Wo haben Sie es gelernt?«
Chuntian
senkte den
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