Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
langsam. Die Aussprache etwas undeutlich, aber
leicht zu verstehen. Viktoria wandte stöhnend den Kopf in
Richtung der Worte.
Eine
Chinesin stand vor ihr. Sie trug die schlichte, farblose Kleidung der
Bäuerinnen. Falten hatten sich unter ihre Augen gegraben und das
schwarze Haar wurde von silbrigen Strähnen durchzogen. Dennoch
schien dieses Gesicht anziehend, beinahe schön, obwohl ihm die
Zerbrechlichkeit einer Porzellanfigur fehlte, die Viktoria bisher an
vornehmen Chinesinnen bewundert hatte.
Die
Frau kam näher und hockte sich neben die Matratze.
»Sie
haben einen Schlag auf den Kopf bekommen. Ist Ihnen schwindelig oder
übel?«
Viktoria
versuchte, eben jenen Kopf zu schütteln, doch stöhnte sie
sogleich auf.
»Nur
ruhig, bleiben Sie liegen. Die Wunde wird verheilen. Sonst haben Sie
keine schweren Verletzungen.«
Viktoria
ließ ihre Lider zufallen. Die Stimme der Frau war ungewöhnlich
tief für eine Chinesin, wohltuend weich und warm. Langsam fügten
Bruchstücke sich in ihrem Gedächtnis zusammen und ließen
sie wieder auffahren.
»Wo
ist Dewei?«, fragte sie entsetzt. »Ein chinesischer
Junge, der …«
»Es
geht ihm gut. Er ist mit meinem Sohn zur deutschen Gesandtschaft
gelaufen, um Hilfe für Sie zu holen. Aber ehrlich gesagt …«
Die
unbekannte Chinesin lachte auf.
»Ich
glaube nicht, dass man auf der Gesandtschaft hören will, was
zwei gewöhnliche Chinesen zu sagen haben.«
Viktoria
nahm einen unterschwelligen Vorwurf wahr, konnte aber nicht
widersprechen.
»Ich
werde eine Nachricht an Max von Brandt schicken. Den deutschen
Gesandten«, versprach sie. Dann zwängte sie sich in eine
aufrechte Haltung. Der Schmerz wurde schwächer, als hätten
ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt. Sie erblickte einen
winzigen, spärlich möblierten Raum mit einer einzigen
Fensteröffnung. In einer Ecke türmten sich bunte
Kleidungsstücke, auf denen eine Dämonenmaske thronte.
Daneben lehnte ein langer Stab an der Wand, der ihr bekannt vorkam.
Ein Tisch stand in der Mitte des Raumes. Auf ihm erkannte sie jene
schlichten Tongefäße, die sie während ihrer Reise
nach Peking in einigen Herbergen benutzt hatte. Lao Tengfei hatte ihr
edleres Essgeschirr aus Porzellan und Jade zur Verfügung
gestellt. Sie befand sich nun in einem weitaus ärmlicheren Haus,
das dennoch wohnlich wirkte. Aber wie war sie hierher gekommen?
Ratlos
blickte sie zu der Chinesin, die gerade ihre Beine ausstreckte.
Viktoria sah, was sie in der kaiserlichen Hauptstadt bisher nur an
Mongolinnen gesehen hatte: völlig normal entwickelte, gerade
Frauenfüße steckten in den schlichten Stoffschuhen.
»Ich
stamme aus dem Volk der Hakka. Bei uns werden Mädchenfüße
nicht eingebunden«, erklärte die Frau, als habe sie den
Grund für das Starren sogleich erraten. Viktoria senkte den
Blick, denn sie war wohl unhöflich gewesen.
»Ich
weiß, für euch ist hier vieles sehr ungewöhnlich«,
fuhr die Chinesin sogleich fort. »Mögen Sie denn unser
Essen?«
Viktoria
nickte ehrlich.
»Das
freut mich, denn es wäre sehr schwer für mich, hier
europäisches Essen aufzutreiben«, meinte die Chinesin mit
einem leisen Lachen. »Ich werde Ihnen gleich etwas besorgen,
denn Sie sollten essen, um wieder auf die Beine zu kommen. Aber
zunächst: Ich bin Yazi. Meine Eltern benannten mich nach einer
Ente, weil ich bereits als Säugling eine breite, lange Nase
hatte, die sie an einen Schnabel erinnerte.«
Viktoria
lächelte höflich. Ihr schien die Nase nicht lang, als
Europäerin war sie längere Nasen gewöhnt.
»Sie
wollen sicher wissen, wie Sie hierher gekommen sind«, fuhr Yazi
fort. »Mein Sohn hat Sie gerettet. Er wartete vor dem Haus des
Mandarins, da Chuntian versprochen hatte, eine Nachricht zu schicken.
Dann sah er Sie hinausgehen. Chuntian hatte von Ihnen gesprochen, und
daher folgte er, obwohl er es nicht gleich wagte, Sie anzusprechen.
Er hat noch nie mit einer Lao Wai geredet. Dann sah er sie in den
Karren des Bettlers steigen.«
Yazi
machte eine kurze Pause.
»Diese
Bettler sind organisiert. Sie haben Anführer, die regelmäßige
Einnahmen und Abgaben von ihnen fordern. Also jedenfalls wusste mein
Sohn, dass Sie in eine Falle liefen. Er folgte und griff rechtzeitig
ein.«
Viktoria
tastete nach der Wunde an ihrem Kopf. Rechtzeitig war es
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