Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
losließ,
strahlte sein Gesicht.
»Ich
werde fragen, wie wir zu der Gesandtschaft kommen«, bot er sich
an und lief los, ohne ihr Einverständnis abzuwarten.
Eine
Weile später kam Dewei mit einem zerlumpten, ausgemergelten Mann
zurück, der einen Schubkarren zog. Jinrikschas gab es in Peking
nicht, hatte Max von Brandt erzählt, denn die Träger der
Sedanstühle und Fuhrleute hatten gegen die Einführung einer
solchen Konkurrenz protestiert, indem sie sie einfach in den Kanal
warfen.
»Der
bringt uns zur Gesandtschaft«, rief Dewei erfreut. Viktoria
kletterte erleichtert in den Karren und zahlte sogleich zwei Tael,
wie der Mann es verlangte. Deweis Mahnung, dass sie hätte
handeln sollen, fegte sie zur Seite, denn dazu fehlte ihr jetzt die
Geduld.
Sie
verschwanden im Dickicht der Hutongs. Viktoria versuchte, ihren Blick
von dem Elend abzuwenden, den Gestank nicht wahrzunehmen und in
keines jener Gesichter zu blicken, das sich ihr erschöpft oder
auch bettelnd entgegenstreckte. Sie schüttelte Hände ab,
die nach ihr griffen. Warum war der Schubkarren so langsam? Sie
konnte es nicht erwarten, endlich wieder die hohen, eleganten
Gesandtschaftsgebäude zu sehen, in eine vertraute, sichere Welt
einzutauchen. Von China hatte sie endgültig genug.
Doch
statt wieder eine weite Straße zu erreichen, zog der Karren sie
immer tiefer in die unüberschaubare, verwinkelte Welt
gewöhnlicher Chinesen. Sie begann, ungeduldig mit dem Fuß
zu wippen. Für zwei Tael konnte sie durchaus einen schnelleren
Transport erwarten. Wenn diese Lumpengestalt den Weg nicht wusste,
warum fragte er dann niemanden?
»Vi
Ki, das gefällt mir nicht. Vielleicht sollten wir aus dem Karren
springen und zurücklaufen«, murmelte Dewei ihr unsicher
ins Ohr. Sie schnaubte. Allein durch die Hutongs zu rennen hatte ihr
gerade noch gefehlt!
»Ach
was, der hat sich verirrt, aber er bringt uns schon irgendwie hin«,
meinte sie und klopfte Dewei beruhigend auf die Schulter.
Dann
blieb der Karren plötzlich stehen. Viktoria sah sich verwirrt
um, konnte aber nur verdreckte, baufällige Hütten
entdecken. Es stank so erbärmlich, dass sie sich zum Schutz eine
Hand vor die Nase hielt.
»Los,
frag ihn, was das soll. Wenn er eine Pause braucht, dann bitte nicht
hier«, forderte sie Dewei auf, denn im Augenblick fühlte
sie sich außerstande, die melodischen Töne des
Chinesischen verständlich auszusprechen. Dewei gehorchte jedoch
nicht, sondern starrte nur mit weit aufgerissenen Augen in das Elend
seines Landes.
»Worauf
wartest du, verdammt!«
In
diesem Moment begann der Besitzer des Karrens laut zu rufen. Viktoria
spürte erneut eine Hand an ihrem Arm. Sie war schwarz vor
Schmutz, mit eitrigem Ausschlag übersät, ließ sich
aber nicht abschütteln. Dieser Griff war nicht bettelnd, sondern
hart wie eine Fessel. Bevor sie protestieren konnte, hatte Dewei
seine Zähne in das abstoßende Fleisch gebohrt. Blut
sprudelte hervor. Ein wütender Schrei erklang.
»Vi
Ki, raus und lauf! Das ist eine Falle!«, rief der Junge, bevor
er selbst vom Karren sprang. Viktoria griff verzweifelt nach dem
Koffer mit ihren Besitztümern, an dem bereits etliche Hände
zerrten. Es gelang ihr, ihn loszureißen, dann wollte sie aus
dem Karren klettern, doch eine Schar elender Gestalten streckte
bereits erwartungsvoll die Arme nach ihr aus. Sie wich entsetzt
zurück, wurde aber gepackt und zu Boden gerissen. Der Koffer
sprang auf. Dreckige Krallen wühlten in ihrer Kleidung, zogen
Bücher heraus und warfen sie fort. Viktoria kreischte empört.
Fahle, ausgezehrte Gesichter mit Schlitzaugen musterten sie
triumphierend. Gottverdammte Chinesen, Ausgeburten der Hölle
waren sie! Sie trat um sich, kratzte und biss, versuchte mit aller
Kraft, wieder auf die Beine zu kommen. Dann tauchte ein Holzscheit in
ihrem Blickfeld auf, verdrängte alle anderen Bilder und sank
unbarmherzig auf sie nieder. Schmerz explodierte in ihrem Kopf, bevor
Finsternis sie erlöste.
10. Kapitel
Viktorias
Lider flackerten. Licht stach in ihre Schädeldecke. Sie wollte
ihm entkommen, indem sie wieder die Augen schloss, doch auch im
Dunkel fand sie keinen Frieden, denn ihr Kopf wurde von Nägeln
durchbohrt, die sie wieder ins Leben zurückzwangen. Sie
erblickte eine hölzerne Decke über sich. Unter ihr war es
weich. Sie lag auf einer Matte.
»Wie
geht es Ihnen?«
Das
Englisch war sehr
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