Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
sie sich tatsächlich wieder wohlzufühlen
begann.
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Das
Zusammenleben vierer Menschen in einem Raum war beengend. Viktoria
zog sich auf ihre Matte zurück, denn allzu viel Bewegung
verursachte immer noch Schwindelgefühle und Kopfschmerzen. Dewei
gesellte sich an ihre Seite und schlug vor, ihr aus einem der
geretteten Bücher vorzulesen. Sie stimmte zu, denn Yazi und
Jinzi verstanden genug Englisch, um dadurch ebenfalls unterhalten zu
werden.
Indessen
begann der Akrobat sich herzurichten. Viktoria sah ihn ein schillernd
buntes Kostüm aus dem Kleiderberg ziehen, ihr dann den Rücken
zuwenden, um in einer Zimmerecke aus seiner Jacke zu schlüpfen.
Dewei las etwas lauter von Oliver Twists Abenteuern und Viktoria
begriff, dass sie abgelenkt werden sollte. Peinlich berührt, so
aufdringlich gestarrt zu haben, wandte sie ihr Gesicht der Wand zu.
Erst als Deweis Stimme wieder leiser geworden war, wagte sie sich
wieder umzudrehen. Jinzi kauerte vor einem zerbrochenen Spiegel in
der Zimmerecke und schmierte weiße Schminke in sein Gesicht.
Langsam und präzise wie eine Dame der Halbwelt vor einem
wichtigen Rendezvous zeichnete er schwarze Striche unter seine Augen,
zog sie weiter zu schwungvollen Bögen an den Augenwinkeln und
malte sich breite, schräge Brauen. Dann band er das prächtige
Haar zu einem Knoten und setzte einen mit zahlreichen Gehängen
verzierten Hut auf. Schließlich kramte er ein Schwert heraus,
ließ es kurz durch die Luft fliegen, um es geschickt wieder am
Knauf zu packen. Mit einem raschen Blick in den Spiegel überprüfte
er nochmals sein Aussehen, bevor er seiner Mutter kurz zunickte und
durch die Tür verschwand.
Viktoria
versuchte sich auf Deweis Lesung zu konzentrieren. Ein Abschnitt war
ihr entgangen, aber sie kannte den Text. Obwohl das Schicksal des
armen Oliver keineswegs erfreulich war, konnte sie nicht aufhören
zu lächeln.
Männliche
Eitelkeit hatte sie schon bei Anton amüsiert, doch gefiel sie
ihr auch.
Sie
hörte Yazi im Hintergrund das Geschirr abräumen und schloss
die Augen. Sobald sie ein wenig geschlafen hatte und der Kopfschmerz
sie endlich nicht mehr plagte, konnte sie überlegen, wie es mit
ihrem völlig aus den Fugen geratenen Leben weitergehen sollte.
Ein
Schieben in ihrem Rücken riss sie aus wirren Träumen. Es
war dunkel geworden. Aus dem Nebengebäude drang der schrille,
einsame Gesang einer Frau. Ansonsten schien die riesige Stadt endlich
zu schlafen. Sie ertastete Deweis vertrauten, warmen Körper an
ihrer Seite. Aber nicht nur er machte ihr den Platz streitig. Nachdem
ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, entdeckte sie
ein Stück hinter ihm zwei weitere Gestalten auf der Matte, denn
es gab nur eine Schlafstelle in diesem Raum. Yazi lag auf dem Bauch
und hatte ihr Gesicht in der Ellenbogenbeuge vergraben. Jinzi ruhte
nun ebenfalls reglos am äußersten Ende der Matte. Er hatte
ihr den Rücken zugewandt. Dennoch hätte sie schwören
können, dass da eine Bewegung gewesen war, als sie sich
aufrichtete. Jinzi hatte sie angestarrt, war rasch herumgefahren, als
er ihr Aufwachen bemerkte.
Sie
hätte es befremdlich, ja beängstigend finden müssen,
von diesem fremden Mann heimlich im Schlaf beobachtet worden zu sein.
Doch zu ihrer eigenen Überraschung empfand sie Genugtuung, fast
rauschende Freude.
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Als
Viktoria am nächsten Morgen erwachte, war Jinzi bereits
verschwunden. Sie fühlte sich nun stark genug, um endlich
aufzustehen, sich aus ihrem verschmutzten Kleid zu schälen und
nach gründlicher Wäsche einen schlichten, blauen Kittel
anzuziehen, den Yazi ihr hinhielt. Dann inspizierte sie den Zustand
ihrer Besitztümer. Das Musselinkleid, mit dem sie im schwarzen
Straßenschmutz gelandet war, schien hoffnungslos verdorben,
aber zum Glück hatte der Rest ihrer Kleidung nur ein paar
Flecken abbekommen. Yazi besorgte einen Eimer Wasser und begann emsig
zu schrubben. Viktoria bot sich nach einigem Zögern an
mitzuhelfen. Sie hatte kein Geld, um die Dienste einer Wäscherin
zu bezahlen, und es war ihr daher peinlich, einfach nur zuzusehen.
Bald schon schmerzten ihre aufgeriebenen Finger, doch da Yazi emsig
weiter wusch, durfte sie selbst nicht aufhören.
»Gewöhnlich
trete ich mit Jinzi auf«, erzählte die Chinesin. »Doch
meine Knochen werden alt. Vorige Woche bin ich gestolpert und seitdem
schmerzt mein Knöchel. Jinzi meinte, ich sollte mir eine
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